Seite - 47 - in Die schwierige Versöhnung - Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
Bild der Seite - 47 -
Text der Seite - 47 -
47
Alcide De Gasperi und die österreichische Politik vom Reich bis zum „Anschluss“
Katholiken gegenüber den Liberalen an den österreichischen Universitäten
an: Unter der Flagge der Freiheit der Wissenschaft und der Unabhängigkeit der wis-
senschaftlichen Forschung bewegt sich und lebt der übermäßige Liberalismus, der
offenkundigste Antiklerikalismus. Und auf die liberalen Verluste im Reichsrat
anspielend fuhr De Gasperi fort: […] die Liberalen, die aufgrund der Volkswahl
von den legislativen Schützengräben vertrieben wurden, sind bei den Universitäten
hängen geblieben, die unter der Fahne der ,wissenschaftlichen Freiheit‘ zu Festungen
des intolerantesten und hartnäckigsten Liberalismus geworden sind. Einem katho-
lischen Professor bliebe der Zugang zu den konfessionslosen Fakultäten ver-
wehrt, egal, welche wissenschaftlichen Verdienste er erbracht habe, so De
Gasperi. Nur wenigen war dies gelungen, und wenn, dann nur unter Wi-
derspruch der Fakultäten und aufgrund des energischen Beitrages des Bil-
dungsministers, der sich einer solchen offensichtlichen Ungerechtigkeit nicht
schuldig machen wollte. Zu dieser Intoleranz seitens der Fakultäten kommt die
Intoleranz der Studenten. Gegen diese beiden Unduldsamkeiten hatte sich Karl
Lueger beim letzten christlich-sozialen Parteitag aufgelehnt und verkündet,
die Katholiken müssten den ihnen gebührenden Einfluss auch in den Univer-
sitäten gewinnen. Es handelt sich also um einen Kampf für die Gleichberechtigung,
für die Gleichheit, für die Freiheit. Am Schluss seines Artikels kam De Gaspe-
ri auf die Anprangerung des Liberalismus zurück: […] der Liberalismus ist in
Österreich noch beherrschend. Es stimmt, dass er im Parlament nicht mehr unein-
geschränkt herrscht, aber er ist dennoch weiterhin in der Koalition der Antiklerikalen
so stark, dass den Katholiken jene Gerechtigkeit genommen wird, die die freiheitlichen
Grundgesetze ihnen zugestehen. […] Österreich ist seiner Verfassung und seinen Ge-
setzen zufolge kein katholischer Staat […]. Er erkannte jedoch, in der Verwaltungs-
praxis erreichen die Katholiken in Österreich etwas, […] wenn […], sie politisch stark
und organisiert sind, so, wie sie es jetzt in der deutschen christlich-sozialen Partei
und in anderen katholisch-sozialen Gruppierungen in der Kammer sind18.
De Gasperi erinnerte an die Rede Pattais, Rechtsanwalt und Wiener
Abgeordneter der Christsozialen, bei der Veranstaltung der italienischen
akademischen Verbindung am Abend des 10. Februars 1903 wie folgt: Wun-
derbar, wie immer, sprach auch der Abgeordnete Pattai, einer der einflussreichsten
Köpfe der Wiener Christsozialen, der darauf hinwies, dass die Christsozialen die
18 De Gasperi, A lumi spenti II. (Übers. d. Verf.)
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Titel
- Die schwierige Versöhnung
- Untertitel
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Autoren
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Herausgeber
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Verlag
- Bozen-Bolzano University Press
- Ort
- Bozen
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Abmessungen
- 16.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 616
- Schlagwörter
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918