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Maddalena Guiotto
gen in engerem Sinne für katholisch zu erklären31. Eine Verbindung zwischen
den konservativen Elementen dieser Koalition – sprich dem böhmischen Feu-
daladel, der die Tageszeitung „Das Vaterland“ finanzierte und den rechten
Katholiken des Prinzen Alois von Liechtenstein – und den Christsozialen
Luegers schufen jene „Entenabende“, aus denen das erste christlich-soziale
Programm hervorging und an denen Liechtenstein, Lueger und Ernst Schnei-
der von der antisemitischen Arbeiterpartei teilnahmen. Lueger war also der
politische Alchemist, dem es gelang, die Elemente der katholisch-sozialen
Unzufriedenheit zusammenzuschmelzen und sie in eine große und wichtige
Organisation zu verwandeln. Obgleich er sich nicht auf tief religiös begrün-
dete Ansichten stützte, wusste Lueger die neuen Theorien der katholischen
Soziallehre als Katalysator für sein politisches Experiment zu nutzen und
es gelang ihm, einen Großteil der Wiener Handwerkerschicht in das christ-
lich-soziale Lager überzuführen. Mit seinem Kampf gegen die „Mächtigen“
– das waren die Kapitalisten, Liberalen, Juden und Aristokraten – wurde Lue-
ger zum Helden des Kleinbürgertums. 1895 gewann er die Wiener Gemeinde-
ratswahlen, aber der Kaiser lehnte seine Ernennung zum Bürgermeister bis
1897 dreimal ab32. Als er das Amt schließlich antrat, widmete er sich mit viel
Energie den Aufgaben des öffentlichen Lebens. An seinem Verwaltungsmo-
dell orientierte man sich über Österreichs Grenzen hinaus.
Die Tätigkeit der Wiener Christsozialen war also eine wichtige Erfah-
rungsquelle für De Gasperi, der an den Ereignissen rund um deren Erfolg
maßgeblich beteiligt war:
Während ich diese Zeilen verfasse, bereiten sich die Christsozialen auf einen
großen – und was die politische Partei betrifft – entscheidenden Kampf vor.
Im Herbst sind die Wahlen für den Landtag (Vertretung des Landes) [von
Niederösterreich], der bislang in unseren Händen ist. Die Juden – die Ver-
treter des Kapitals – haben in den Sozialisten Verbündete gefunden, die hier
31 Lothar Höbelt, Die Konservativen Alt-Österreichs 1848 bis 1918: Parteien und Politik,
in: Konservativismus in Österreich. Strömungen – Ideen – Personen u. Vereinigungen von
den Anfängen bis heute, hrsg. von Robert Rill und Ulrich E. Zillermann (Graz–Stuttgart
1999) 126–137.
32 Schorske, Fin-de-siècle Vienna 143–145; Helmut Rumpler, Eine Chance für Mitteleuro-
pa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie, in: Österrei-
chische Geschichte, Bd. VIII, hrsg. von Herwig Wolfram (Wien 1997) 491–494.
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Titel
- Die schwierige Versöhnung
- Untertitel
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Autoren
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Herausgeber
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Verlag
- Bozen-Bolzano University Press
- Ort
- Bozen
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Abmessungen
- 16.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 616
- Schlagwörter
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918