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Maddalena Guiotto
gegen die Juden, weil sie eine andere Religion haben und einer anderen Rasse angehö-
ren, aber wir müssen uns dem widersetzen, dass sie sich die Christen mit ihrem Geld
zu Sklaven machen36. Es war ein Antisemitismus, der in erster Linie sozial und
wirtschaftlich, nicht aber rassistisch ausgerichtet war.
Die Führung der österreichischen Christsozialen, von Karl Lueger
über Richard Weiskirchner und Albert Gessmann, vertrat also keinen anti-
semitischen Rassismus und hatte nichts mit der Theorie und Praxis von poli-
tischer Gewalt zu tun. Für Lueger und den Großteil der christlich-sozialen
Führungsmitglieder waren die Kritik und die Angriffe gegenüber Juden
hauptsächlich politisch motiviert. Die antisemitische Rhetorik, derer sich
Lueger in der Öffentlichkeit bediente, war jedoch brutal, beleidigend und
unbarmherzig und ihre emotionelle Wirkung konnte von anderen zu noch
schändlicheren Zwecken genutzt werden, auch innerhalb der Partei37. Noch
stärker und extremer verbreitet war der Hass gegenüber Juden bei dem klei-
nen „linken“ Flügel der christlich-sozialen Partei unter der Führung von Leo-
pold Kunschak38, der De Gasperi aufgrund seiner Verdienste bei der Organi-
sation der Arbeiterschaft hoch achtete.
De Gasperis Bewunderung galt nicht nur Lueger, sondern vor allem dem,
was er als den größten Stolz dieser Partei bezeichnete, nämlich
die reine Arbeiterbewegung, die sich voriges Jahr beim letzten Wiener Kon-
gress zu einer autonomen und von der Partei unabhängigen Organisation
erklärt hatte, obgleich sie davon natürlich ein Teil bleibt. Der Organisator
der Arbeiterschaft ist der einstige Sattlergeselle Leopold Kunschak, der dann
inbrünstiger Propagandist für die gesamte Jugend wurde und nun Redakteur
der ,Christlich-sozialen Arbeiterzeitung‘ ist39.
36 Der Bericht zum Streitgespräch wurde auf der ersten Seite der Tageszeitung veröffent-
licht, die De Gasperi bereits seit mehr als einem Jahr leitete: Il contraddittorio Dr. Degasperi
– Todeschini, in: Il Trentino (18. Juni 1906), auch in De Gasperi, Scritti e discorsi politici, Bd.
I/1 468–473. Mario Todeschini war Abgeordneter der italienischen sozialistischen Partei von
1900 bis 1919. (Übers. d. Verf.)
37 Siehe dazu ausführlicher Boyer, Karl Lueger. Christlichsoziale Politik 207–210.
38 Ebd. 208 f.
39 De Gasperi, La democrazia cristiana all’estero. (Übers. d. Verf.)
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Titel
- Die schwierige Versöhnung
- Untertitel
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Autoren
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Herausgeber
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Verlag
- Bozen-Bolzano University Press
- Ort
- Bozen
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Abmessungen
- 16.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 616
- Schlagwörter
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918