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Alcide De Gasperi und die österreichische Politik vom Reich bis zum „Anschluss“
Der einundzwanzigjährige Sattler Kunschak, Stammgast bei den „Entenaben-
den“ und den Vorträgen der „Leo-Gesellschaft“, hatte im September 1892 den
Arbeiterverein Niederösterreichs gegründet und somit der Bewegung des bis
dahin hauptsächlich handwerklichen Kleinbürgertums eine gewerkschaft-
liche Arbeiterorganisation gegeben. Die Durchsetzung dieser Organisation
stieß jedoch innerhalb der Partei auf immer größere Schwierigkeiten, beson-
ders nach der im Jahr 1907 erfolgten Zusammenlegung der Christsozialen
mit den Katholisch-Konservativen40. In Bezug auf die Organisation von Kun-
schak äußerte sich De Gasperi folgendermaßen:
Diese Arbeiter, mit einem wirklich christlichen Geist, sind die frische Reserve
der Partei. Wer letztes Jahr die Vertreter der Hauptindustriezentren beim chri-
stlich-sozialen Arbeiterkongress in Wien gesehen hat, wie sie ein tief christli-
ches und aufrichtig demokratisches Programm gelobten und überschwänglich
Leo XIII. Beifall klatschten, der hatte das Österreich der Zukunft vor sich,
wenn es denn eines geben wird. Ich erinnerte damals an das Dilemma von
Lueger: ‚Entweder das christlich-soziale Österreich oder die Auflösung‘.
Und er schloss, indem er erneut, wenn auch nicht explizit, die österreichische
Situation mit der italienischen in Verbindung brachte:
In Österreich bemerkten die Katholisch-Konservativen zu spät die moralische
Schlagkraft der Christlichen Demokratie […] und erst letztes Jahr […] erkann-
ten sie Lueger die Rolle des ‚Retters Österreichs‘ zu. Wenn man es rechtzeitig
in anderen Ländern verstehen würde, zumindest dort, wo ähnliche Bedingun-
gen ähnliche Mittel erfordern!41
Die persönlichen Kontakte und vor allem die Teilnahme De Gasperis an Fra-
gen bezüglich Österreichs und Wiens endeten nicht mit seiner Studienzeit,
sodass er nach seiner Wahl im Jahr 1911 wieder in den Reichsrat aufgenom-
men wurde. Kurz nach seiner Promotion nahm De Gasperi im November
1905 am fünften österreichischen Katholikentag in Wien teil. Dem jungen
Politiker aus dem Trentino wurde eine bedeutende Rolle im Rahmen der Prä-
40 Wandruszka, Il cattolicesimo politico e sociale 172.
41 De Gasperi, La democrazia cristiana all’estero. (Übers. d. Verf.)
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Titel
- Die schwierige Versöhnung
- Untertitel
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Autoren
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Herausgeber
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Verlag
- Bozen-Bolzano University Press
- Ort
- Bozen
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Abmessungen
- 16.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 616
- Schlagwörter
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918