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Maddalena Guiotto
Nach der Einführung der auf Grundlage des allgemeinen Wahlrechts ge-
wählten fünften Kurie im Jahr 1896 hatten die durch das Zensussystem be-
nachteiligten nichtdeutschen Nationen und vor allem die beiden großen Mas-
senparteien – Sozialdemokratie und Christsoziale – die Bewegung zugunsten
des allgemeinen, unmittelbaren und gleichen Männerwahlrechtes verstärkt.
Im Jahr 1905 schenkte auch Kaiser Franz Joseph dieser Reform seine Auf-
merksamkeit. Er stimmte einer Verbesserung des Badeni-Gesetzes im demo-
kratischen Sinne zu, in der Hoffnung, die nationalen, das österreichische
Staatsgefüge zerreißenden Konflikte in einer auf Grundlage des allgemeinen
Wahlrechts gewählten Kammer von einer Wählerschaft, die mehr die wirt-
schaftlichen als die nationalen Fragen im Blick hatte, abzumildern49. Die im
Jahr 1905 von dem konservativen Ministerpräsidenten Paul von Gautsch ein-
geleitete Reform wurde 1906 von Max Vladimir von Beck, einer der fähigsten
und dynamischsten Persönlichkeiten der Endphase der Habsburgermonar-
chie, abgeschlossen. Das neue Gesetz wurde im Jänner 1907 verabschiedet,
mit einer neuen Wahlgeometrie: mit möglichst homogenen Wahlkreisen
unter einem nationalen Gesichtspunkt und von unterschiedlicher Größe und
Bevölkerungszusammensetzung. Dennoch berücksichtigte man den unter-
schiedlichen Steuerbeitrag der verschiedenen Regionen, und dieser Faktor
begünstigte weiterhin das deutsche und das italienische Element. Die Reichs-
ratswahlen, die wenige Monate nach der Einführung der Wahlreform statt-
fanden, führten zu einem völlig neu zusammengesetzten Abgeordnetenhaus
– weniger im Hinblick auf die Nationalitätenverhältnisse als in Bezug auf die
politische Zusammensetzung der einzelnen nationalen Anteile50.
Der Kampagne um das allgemeine Wahlrecht widmete De Gasperi
eine ununterbrochene Tätigkeit – in Form von Schriften, Kundgebungen und
diversen Redebeiträgen –, und er zögerte nicht, eine „radikale Reform“ zu
fordern, welche „die Privilegien, denen bereits die historische Grundlagen
49 Rumpler, Eine Chance für Mitteleuropa 551 ff.; Angelo Ara, Crisi e declino della mon-
archia asburgica, in: Il luogo di cura nel tramonto della monarchia d’Asburgo. Arco alla fine
dell’Ottocento, hrsg. von Paolo Prodi, Adam Wandruszka (= Jahrbuch des italienisch-deut-
schen historischen Instituts in Trient 43, Bologna 1996) 323–345.
50 Zum Gesetzgebungsverfahren, das zur Reform führte und dessen Ergebnisse hinsicht-
lich der Wahlen siehe Lothar Höbelt, Parteien und Fraktionen im cisleithanischen Reichsrat,
in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VII: Verfassung und Parlamentarismus, hrsg.
von Helmut Rumpler, Peter Urbanitsch (Wien 2000) 895–1006, besonders 970–979,
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Titel
- Die schwierige Versöhnung
- Untertitel
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Autoren
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Herausgeber
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Verlag
- Bozen-Bolzano University Press
- Ort
- Bozen
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Abmessungen
- 16.0 x 23.0 cm
- Seiten
- 616
- Schlagwörter
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918