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1. Der Wandel des Feindbildes: sowjetische Propaganda 73
Die Propagandamaschinerie lief vor dem Hintergrund der gewaltigen Ver-
luste der ersten Kriegswochen und der chaotischen Verhältnisse an der Front
und im Hinterland an. Von Anfang an kam der Ideologie eine herausragende
Funktion zu, da sich mit Deutschland und der Sowjetunion zwei totalitäre Re-
gime gegensätzlicher politischer Pole gegenüberstanden. Der in der proleta-
rischen Klassenideologie erzogene sowjetische Soldat sah zunächst auch den
Feind durch dieses Prisma. Doch mit jedem weiteren Schritt der Wehrmacht
innerhalb des sowjetischen Territoriums verflüchtigte sich die klassenideologi-
sche Illusion, dass sich die deutschen Arbeiter und Bauern als „Klassenbrüder“
erweisen würden. In den Analysen des deutschen Vormarsches verschwand
der klassenkämpferische Akzent. Auch die verbale Unterteilung in „Deutsche“,
„Faschisten“ und „Feinde“ verschwamm sukzessive. Rasch setzte sich das Bild
vom „Faschisten-Feind“ durch, das zunehmend national eingefärbt war.25 Es sei
„natürlich eine Lüge“, dass die „deutschen Faschisten Sozialisten wären, die die
Interessen der Arbeiter und Bauern gegen die Plutokraten verteidigen würden“,
sollte Stalin in seinem Befehl anlässlich des 1. Mai 1942 betonen.26
Erst in seiner Rede anlässlich des 24. Jahrestages der Oktoberrevolution
am 6. November 1941 rang sich Stalin das öffentliche Eingeständnis ab, dass
die „hitlersche Horde“ durchaus geschlossen kämpfte. Er appellierte damit
an das historische Bewusstsein der Bevölkerung, das den Hinweis auf die
zwei Jahrhunderte währende tatarisch-mongolische Schreckensherrschaft
richtig zu interpretieren wusste. Dies war der Beginn einer neuen Propagan-
da im Krieg gegen Deutschland, die auf dem Prinzip basierte: „Aug um Aug,
Zahn um Zahn.“ Mit der Direktive der GlavPURKKA „Über die Beseitigung
von Unzulänglichkeiten in der mündlichen Propaganda und Agitation“ vom
Dezember 1941 wurde der erste ernsthafte Schritt getan, die Effizienz der
eigenen Propaganda zu steigern. Die beiden Begriffe „Faschist“ und „Deut-
scher“ verschmolzen im Alltagsbewusstsein.27
1.1.2 Patriotische Liebe und Hass auf den Feind: Grundthemen
Zwei Grundthemen prägten fortan die sowjetische Literatur und Propagan-
da: Das eine war die patriotische Liebe zum Vaterland, die durch Verweise
25 Elena S. Senjavskaja, Deutschland und die Deutschen in den Augen sowjetischer Soldaten und Of-
fiziere des Großen Vaterländischen Krieges, in: Elke Scherstjanoi (Hg.), Rotarmisten schreiben aus
Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen. Texte und Materialien zur Zeit-
geschichte. Bd. 14. München 2004, S. 247–266, hier: S. 250–252.
26 I. Stalin, Prikaz Narodonogo Komissara Oborony Nr. 130, 1.5.1942, in: Boevoe znamja, 3.5.1942, S.
1f.
27 Perepelicyn – Timofeeva, Das Deutschen-Bild in der sowjetischen Militärpropaganda, S. 270f.
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Stalins Soldaten in Österreich
Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Stalins Soldaten in Österreich
- Untertitel
- Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
- Autor
- Barbara Stelzl-Marx
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78700-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 874
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918