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1. Der Wandel des Feindbildes: sowjetische Propaganda 91
Die Militärführung war sich offenbar bewusst, wie leicht die Forderung,
die Truppen sollten zwischen „Österreichern“ und „Deutschen“ unterschei-
den, sich Ersteren gegenüber korrekt verhalten, mit Letzteren aber unbarm-
herzig abrechnen, scheitern konnte. Dies lag nicht nur an der Schwierigkeit
der Differenzierung zwischen Personen mit derselben Sprache, sondern auch
an der in der Sowjetunion gebräuchlichen Gleichsetzung von „Deutschen“
mit „faschistischen Feinden“. So beschrieb etwa der Frontkorrespondent der
„Pravda“, Leonid Pervomajskij, Mitte April 1945, dass die „Deutschen“ (ge-
meint waren die Truppen) in Wien weniger Widerstand leisteten als in Bu-
dapest, während die „Österreicher“ (gemeint war die Bevölkerung) die Rote
Armee freudig erwarteten.99
Doch wer galt nun als „Österreicher“ und wer als „Deutscher“ auf öster-
reichischem Territorium? Und wer war ein „deutscher Faschist“ bzw. ein
„Helferhelfer aus den Reihen der österreichischen Faschisten“?100 Erschwe-
rend kam die mangelnde Disziplin der Truppen hinzu, die jahrelang auf Ra-
che eingeschworen worden waren. Schon beim Einmarsch in Rumänien und
Ungarn war es zu Ausschreitungen seitens der sowjetischen Soldaten, aber
auch zu Übergriffen auf sie gekommen.101 Beim sowjetischen Einmarsch in
Deutschland waren die disziplinären Probleme besonders groß gewesen, bei
jenem in Österreich verhielt es sich ähnlich – die Unterschiede waren nur gra-
dueller, nicht prinzipieller Natur.102
Wenig überraschend musste nach Kriegsende mit dem Mannschaftsstamm
laufend „Aufklärungsarbeit zu Fragen des Verhaltens gegenüber der örtli-
chen Bevölkerung auf dem Gebiet Österreichs“ durchgeführt werden.103 Der
damalige Leutnant Vladimir Vajnrib erinnert sich an die Propaganda vom
Frühjahr 1945, die verlangte, „dass wir nicht Eroberer sind, sondern Befreier.
99 Leonid Pervomajskij, Osvoboždennaja Vena, in: Pravda, 14.4.1945.
100 Diese Diktion findet sich in: B. Pilizyn, Österreich auf dem Weg der unabhängigen Entwicklung, in:
Sowjetunion heute. 10/1975, S. 9, 14, hier: S. 9.
101 So berichtete der Militärstaatsanwalt der 2. Ukrainischen Front, dass es im Zeitraum von September
bis November 1944 zu „feindlichen Aktionen“ seitens der rumänischen Bevölkerung und Soldaten
gegenüber sowjetischen Soldaten gekommen sei. Beispielsweise wurde am 18. September ein sow-
jetischer Soldat von vier Einheimischen überfallen und getötet. Als seine Leiche am nächsten Tag
gefunden wurde, waren die Augen ausgestochen und die Nase sowie Wangen abgeschnitten. Der
Köper wies zahlreiche Hautabschürfungen auf. Vgl. RGASPI, F. 82, op. 2, d. 890, S. 41, Schreiben
von Gorešnin an Molotov bezüglich der Übergriffe auf Soldaten der Roten Armee in Rumänien,
4.12.1944.
102 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 237.
103 CAMO, F. 821, op. 1, d. 140, S. 254, Befehl des Kommandanten der 20. Garde-Schützendivision über
Maßnahmen zur Einrichtung und Verbesserung des Garnisonsdienstes, 12.5.1945. Abgedruckt in:
Karner – Pickl, Die Rote Armee in der Steiermark, Dok. Nr. 43. Siehe dazu auch das Kapitel B.I.1.3
„Politisch-moralische Schulung“ in diesem Band.
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Stalins Soldaten in Österreich
Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Stalins Soldaten in Österreich
- Untertitel
- Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
- Autor
- Barbara Stelzl-Marx
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78700-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 874
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918