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1. Der Wandel des Feindbildes: sowjetische Propaganda 97
sich die Rote Armee zur Moskauer Deklaration, weswegen die Bevölkerung
nicht an die „deutsche faschistische Lüge, die Rote Armee würde das öster-
reichische Volk verfolgen“, glauben dürfe. Zum Abschluss mahnte der Auf-
ruf, Ruhe und Ordnung zu bewahren sowie der Roten Armee „tatkräftig“ zu
helfen.124
Zu diesem Zeitpunkt verbreiteten die Sowjets zudem ein eigens an öster-
reichische Offiziere und Soldaten gerichtetes Flugblatt, das dazu aufforderte,
entweder zu den Truppen der Roten Armee überzulaufen oder im Hinter-
land gegen die deutschen Truppen zu kämpfen. Vorläufer war Tolbuchins
Aufruf „Österreicher!“ vom 5. April, der die „Österreicher in der Wehr-
macht“ gezielt zu Massendesertionen aufgerufen hatte. Dieser dezidierte
Aufruf zum offenen Widerstand ist auch vor dem Hintergrund des für den
6. April 1945 geplanten militärischen Aufstandes unter Major Carl Szokoll zu
sehen, dessen Unterstützung die Rote Armee zugesichert hatte.125
Zwischen 3. und 6. April 1945126 trug Tolbuchin in einem an die „Bürger
von Wien“ gerichteten Aufruf der militärischen Entwicklung Rechnung. Die
Auflage dieses Flugblattes war mit 200.000 Exemplaren besonders hoch.127
Den schon bekannten Verweisen auf die Moskauer Deklaration und die „Be-
freiungsmission“ der Roten Armee folgte die Aufforderung, die Wiener Be-
völkerung solle die Stadt nicht verlassen, „um ihre geschichtlichen Denkmä-
ler der Kunst und Kultur“ zu erhalten. Desgleichen wurde die Bevölkerung
angehalten, „den Kampf gegen die Deutschen zu organisieren, um Wien vor
der Zerstörung durch die Nazipreußen zu bewahren“, und Plünderungen zu
verhindern. Dabei fällt auf, dass die Sowjets auch hier das „aktive Eingreifen
124 Aufruf des Militärrates der 2. Ukrainischen Front „An die Bevölkerung Österreichs“, nicht nach
dem 6.4.1945. Abgedruckt in: Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich,
Dok. Nr. 15. Original abgedruckt in: Zemskov, SSSR – Avstrija, S. 17–19. Mit abweichender Überset-
zung in: Sowjetunion heute. 9/1975, Beilage, o. S.
125 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 114f. Siehe dazu ausführlich das Kapitel A.II.2 „Carl
Szokoll und die Sowjets: Militärischer Widerstand in Wien“ in diesem Band.
126 Eine exakte Terminisierung dieses Aufrufes ist nicht möglich. Als Datierung finden sich sowohl der
6. April 1945 (vgl. Institut Voennoj Istorii, Krasnaja Armija v stranach Central’noj Evropy, S. 621) als
auch der 5. April (vgl. Želtov, Političeskaja rabota, S. 26) und der 3. April (vgl. Sowjetunion heute.
9/1975, Beilage, o. S.). Blagodatov betonte, dass sich Tolbuchin vor dem Sturmangriff auf Wien,
der am 5. April früh begann, mit dem Aufruf an die Bevölkerung der Stadt gewandt habe. Vgl.
Blagodatow, Die ersten Friedenstage in Wien, S. 25. Vgl. Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik,
S. 113. Auch die Politverwaltung der 3. Ukrainischen Front verweist darauf, dass sich Tolbuchin am
5. April an die Bürger von Wien wandte. Vgl. CAMO, F. 243, op. 2914, d. 119, S. 165, 184–195, 200,
Bericht der Politverwaltung der 3. Ukrainischen Front an Ščerbakov über die Arbeit der Politorgane
und den politisch-moralischen Zustand der Truppen, nach dem 13.4.1945. Abgedruckt in: Institut
Voennoj Istorii, Krasnaja Armija v stranach Central’noj Evropy, S. 647–653.
127 CAMO, F. 275, op. 356369s, d. 2, S. 256–268, hier: S. 257, Bericht von V. Smirnov über die Arbeit
unter der österreichischen Bevölkerung im Zeitraum vom 1. April bis 1. August 1945 [August 1945].
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Stalins Soldaten in Österreich
Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Stalins Soldaten in Österreich
- Untertitel
- Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
- Autor
- Barbara Stelzl-Marx
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78700-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 874
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918