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II. Kriegsende in
Österreich114
am 4. und 5. April etwas gedrosselt, um bei Schonung der eigenen Kräfte das
Ergebnis des vereinbarten Aufstandes abzuwarten. Daher dürfte wohl auch
der für den 5. April angesetzte Generalangriff etwas schwächer als ursprüng-
lich geplant ausgefallen sein.206
Der sowjetische Diplomat Nikolaj Lun’kov erinnert sich, dass Marschall
Tolbuchin die Tätigkeit Szokolls besonders hoch geschätzt haben soll: In ei-
nem Gespräch mit Lun’kov betonte Tolbuchin, ohne die Verdienste der Wi-
derstandsgruppe hätten beim Kampf um Wien mehr als 70.000 Menschen ihr
Leben verloren. Außerdem hätten die übergebenen Pläne und Karten dem
sowjetischen Oberkommando ermöglicht, Wien ohne große Verluste von
Südwesten, Osten und Nordosten einzukreisen. Für die operative Tätigkeit
der Roten Armee wäre zudem besonders hilfreich gewesen, dass die Wider-
standsgruppe die Verbindung des Hauptpostamtes abgeschnitten und da-
durch die Wehrmacht dieses Kommunikationsmittels beraubt hätte. Lun’kov
lobte weiters, wie ausgezeichnet sich das groß angelegte sowjetisch-österrei-
chische Zusammenwirken bei der Beseitigung der „Hitlerleute“ in und um
Wien entwickelt hätte.207
Oberst Georgij I. Piterskij, der Leiter der für politische Arbeit unter der
einheimischen Bevölkerung zuständigen 7. Abteilung der Politverwaltung
der 3. Ukrainischen Front, rapportierte Mitte April 1945 nach Moskau: Es sei
den Anführern der Widerstandsbewegung einen Tag vor dem Einmarsch der
sowjetischen Truppen in Wien gelungen, die Leitungen der Wiener Telefon-
zentrale zu kappen und „auf diese Weise der gesamten administrativ-militä-
rischen Maschinerie ihre Telefonverbindung zu nehmen. Daraufhin wurde
der zentrale Radiosender außer Betrieb gesetzt.“208
Wie unten noch ausführlicher behandelt wird, wurde jedoch von sowje-
tischer Seite sowohl in Primärquellen als auch in der Sekundärliteratur der
Vorwurf geäußert, die „bourgeoise“ O5 habe keinen praktischen Kampf ge-
leistet.209 Im Gegenteil, sie habe, so ein Geheimbericht an den stellvertreten-
den Minister für Staatssicherheit, „in erster Linie die Funktion einer Agentur
britischer und amerikanischer Geheimdienstorgane erfüllt, nach deren Vor-
206 Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich, S. 165.
207 N. M. Lun’kov, Vena – kakoj ona byla v sorok pjatom (glazami očevidca), in: Diplomatičeskaja aka-
emija MID Rossii – Sovet veteranov MID Rossii (Hg.), Diplomaty vsmoninajut. Mir glazami vetera-
nov diplomatičeskoj služby. Moskau 1997, S. 78–91, hier: S. 80.
208 AVP RF, F. 06, op. 7, p. 26, d. 321, S. 16–18, Bericht von Piterskij über das Gespräch mit Vertretern
des Zentralkomitees der „Österreichischen Widerstandsbewegung“, 10.4.1945. Abgedruckt in: Ins-
titut Voennoj Istorii, Krasnaja Armija v stranach Central’noj Evropy, S. 624–626.
209 M. A. Poltavskij, Ob osobennosti dviženija soprotivlenija v Avstrii, in: Novaja i novejšaja istorija,
1965-2, S. 109–116, hier: S. 115. Vgl. Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 174.
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Stalins Soldaten in Österreich
Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Stalins Soldaten in Österreich
- Untertitel
- Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
- Autor
- Barbara Stelzl-Marx
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78700-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 874
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918