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III. Der sowjetische Besatzungsapparat: Struktur und
Funktion178
ligen Ortskommandanten.97 Der Befehl war in allen „Städten, Bezirken, Ort-
schaften, Marktflecken und Dörfern“ gleichlautend, weswegen der jeweilige
Kommandant nur mehr das Datum, die Bezeichnung der Ortschaft „seiner“
Kommandantur und seine Unterschrift in der Vorlage ergänzen musste. Die
Bevölkerung erfuhr somit, dass sich „alle Gewalt“ in der Person des Ortskom-
mandanten konzentrierte, dessen Anordnungen als Gesetze zu respektieren
waren. Zuwiderhandeln würde als „eine gegen die Rote Armee gerichtete
Handlung“ angesehen und nach dem „Kriegsrecht“ bestraft werden. Das öf-
fentliche Auftreten der Besatzungsmacht gestaltete sich unmissverständlich.
Ferner regelte der Befehl Nr. 1 die Konfiskation von Waffen, die Auflösung
der NSDAP, die Aufhebung aller NS-Gesetze, die Registrierung sämtlicher
„Reichsdeutscher“ über 16 Jahre und die Gewährleistung der Arbeit öffentli-
cher und privater Einrichtungen. Zivile Aufgaben fielen in die Kompetenz des
vom Kommandanten provisorisch ernannten Bürgermeisters.98
Mit dem „Befehl Nr. 2“ „Zwecks Aufrechterhaltung der öffentlichen Ord-
nung im Weichbilde der Stadt“ sprach der Ortskommandant das Verbot aus,
Informationen über die Rote Armee, ihre Truppenzahl, Truppenbewegung
und ähnliche Wehrgeheimnisse weiterzugeben, illegal Waffen aufzubewah-
ren, Rotarmisten, den „Feind“ oder Zivilpersonen ohne Erlaubnis zu beher-
bergen, gegen die Rote Armee gerichtete Flugblätter zu verbreiten und ver-
brecherische Handlungen gegen die Rote Armee zu unterstützen.99 Damit
definierte der Befehl Nr. 2 indirekt die häufigsten Delikte, deretwegen in den
folgenden zehn Jahren sowjetische Gerichte mehr als 1000 österreichische
Zivilisten zu meist hohen Haftstrafen in der UdSSR verurteilten: Spionage,
illegaler Waffenbesitz, antisowjetische Tätigkeit, Diversion.100
Die Umsetzung dieser Befehle erfolgte umgehend: Bereits Mitte April gab
es in allen größeren Orten sowjetische Militärkommandanturen, die provi-
sorische Bürgermeister einsetzten, mit der politischen Arbeit unter der Be-
völkerung begannen und sich um die Erfassung von Zwangsarbeitern und
Kriegsgefangenen kümmerten.101
97 WStLB, B1800455, Flugblättersammlung, Befehl Nr. 1 des Ortskommandanten, April 1945. Abge-
druckt in: Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich, Dok. Nr. 10. Faksimile
abgedruckt in: Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 420.
98 Ebd.; Mueller, Die sowjetische Besatzung in Österreich, S. 52.
99 WStLB, B1800455, Flugblättersammlung, Befehl Nr. 2 des Ortskommandanten, April 1945. Abge-
druckt in: Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich, Dok. Nr. 11. Faksimile
abgedruckt in: Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 421.
100 Zur sowjetischen Verurteilungspraxis in Österreich vgl. Knoll – Stelzl-Marx, Sowjetische Strafjustiz
in Österreich. Siehe dazu auch das Kapitel B.I.2 „‚Amoralische Erscheinungen‘, Straftaten und ihre
Verfolgung“ in diesem Band.
101 RGASPI, F. 17, op. 121, d. 395, S. 4–7, Šikin an Malenkov über die Lage in den sowjetisch besetzten
Gebieten Österreichs und die Stimmung unter der Bevölkerung, 14.4.1945.
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Stalins Soldaten in Österreich
Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Stalins Soldaten in Österreich
- Untertitel
- Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
- Autor
- Barbara Stelzl-Marx
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2012
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78700-6
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 874
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918