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19. Jahrhunderts nicht nur ein an wenigen Orten konzentriertes Massenpublikum
für Unterhaltung geschaffen, es verloren auch die ländlichen Traditionen der Unter-
haltung an Bedeutung. Diese waren durch die Dorfgemeinschaft selbst organisiert
worden und waren auf ganz bestimmte – meist religiös konnotierte – Abschnitte
des Jahres beschränkt gewesen. An deren Stelle trat nun immer mehr Unterhal-
tung, die von einem (meist kommerziellen) Anbieter für ein anonymes Publikum
organisiert wurde und an jedem Tag des Jahres verfügbar war.15 Zum anderen führte
die Ausweitung der verfügbaren arbeitsfreien Zeit bzw. eine stärkere Trennung
von Arbeits- und Nichtarbeitszeit für größere Teile der Bevölkerung zu einer ver-
änderten Freizeitnutzung bzw. zur „Erfindung“ moderner Freizeit an sich.16 Diese
neue Art der Freizeit konnte für neue Arten von Unterhaltung, wie etwa musika-
lische Massenunterhaltungen, genutzt werden. Insgesamt kam es so nicht nur zu
neuen Formen und Orten der musikalischen Unterhaltung, sondern auch zu einer
quantitativen Zunahme des Unterhaltungspublikums. Orte der populären Unter-
haltung, wie das 1899 erbaute Düsseldorfer Apollotheater mit 2.000 Sitzplätzen 17
oder gar der 1873 erbaute Alexandra Palace in London mit einer Konzerthalle für
3.000 Sitzplätze und einer „Great Central Hall“ für 12.000 Sitzplätze und Raum
für ein 2.000-köpfiges Orchester 18 geben Aufschluss über die Maßstäbe, in denen
populäre Massenkultur zu dieser Zeit gedacht und praktiziert wurde. Um 1900 gab
es alleine in Paris über 260 cabarets und café- concerts, auch diese mit teilweise bis zu
1.500 Sitzplätzen.19 Unterhaltung in diesem Ausmaß benötigte eine immer größere
Anzahl von MusikerInnen. Eine Untersuchung der englischen Unterhaltungsindus-
trie um 1892 – die damals europäische Vorreiterin war – schätzte die Anzahl der
darin beschäftigen Personen auf 350.000, also doppelt so viele als in der öffentlichen
Verwaltung beschäftigt waren.20 Wie schon für die Kunstmusik, bestand auch hier
ein enger Zusammenhang zwischen der massenhaften Produktion von Noten und
Instrumenten einerseits und der veränderten Auftrittspraxis andererseits. Verleger
vermarkteten ihre Lieder und Kompositionen
– die besonders im Vorreiterland USA,
aber auch in Europa zunehmend arbeitsteilig und für einen großen Absatz produziert
wurden 21
– gezielt an Musizierende, um sie so in der breiten Bevölkerung populär zu
15 Vgl. ebd., 38 – 78; Tanzer, Spectacle.
16 Vgl. Arcangeli, Freizeit, 1219 f.
17 Abrams, Workers’ Culture, 101.
18 Watt/Rabinovici, Alexandra Palace, 190.
19 Rearick, Song, 45, 50.
20 Ehrlich, Music Profession, 57.
21 Vgl. Suisman, Sounds. Die Entwicklung der österreichischen Musikindustrie im 19. und
20. Jahrhundert ist noch weitgehend unerforscht, sodass hier vorerst nur auf die 1937 von
Leo Wilzin postulierte Entwicklung der zeitgenössischen Musikwirtschaft verwiesen werden
Entwicklungen vor 1918 23
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Über die Produktion von Tönen
Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Titel
- Über die Produktion von Tönen
- Untertitel
- Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Autor
- Georg Schinko
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20802-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Music-making, Musician, Work, Vocation, Art, Austria, Correspondence analysis, Life Writing, Interwar period --- Musizieren, Musiker, Arbeit, Beruf, Kunst, Österreich, Korrespondenzanalyse, Lebensgeschichtliche Erzählung, Zwischenkriegszeit
- Kategorie
- Kunst und Kultur