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3. LEBENSGESCHICHTLICHE ERZÄHLUNGEN
ALS HISTORISCHE QUELLE
Historische Quellen sind immer Produkte von Praktiken eines oder mehrerer histo-
rischer Akteure. Entsprechend stellen sie deren Perspektiven
– in welcher Qualität
auch immer – dar.1 Wer einen Text verfasste, tat dies auf eine Art und Weise, die
von seinem/ihrem Anspruch auf eine Position im sozialen Raum bestimmt war.
Begriffe und Beschreibungen wurden als Einsätze in Positionskämpfen um die
Deutungshoheit in einem bestimmten Bereich verwendet.2 Dies konnte vorder-
gründig objektiv und neutral geschehen, wenn etwa Arbeitsgerichte gesetzliche
Bestimmungen auf Einzelfälle anwandten. Die Konflikte traten offener zutage, wenn
etwa BerufsmusikerInnen ihre KonkurrentInnen beleidigten und gegen sie agitier-
ten. Hat man den Anspruch, ‚objektive‘, d. h. perspektivenlose historische Entwick-
lungen zu rekonstruieren, dann wird diese Perspektivität der Quellen zum Problem.
Sollen jedoch Struktur und Bedeutung sozialer Positionen zu einem bestimmten
Zeitpunkt beschrieben werden, so wird sie zur Chance für deren Rekonstruktion.
In beiden Fällen ist neben der Kontextualisierung der Quellenproduktion vor allem
das Heranziehen von Quellen notwendig, die konkurrierende Perspektiven konträ-
rer Positionen darstellen. In meinen bisherigen Ausführungen wurden Quellen
herangezogen, die einen ganz spezifischen Ausschnitt an Perspektiven darstel-
len. Vor allem staatliche Behörden (Arbeitsgerichte, Bezirkshauptmannschaften,
Ministerien), gesetzgebende Körperschaften (Parlament) sowie Organisationen
der MusikerInnen (Gewerkschaften, Nichtberufsmusikerorganisationen) produ-
zierten eine Vielzahl von Materialien, die ihre Perspektive auf Musizieren wieder-
geben. Andere Akteure taten dies nicht. Nicht organisierte Musizierende ebenso
wie organisierte BettelmusikantInnen etwa verfassten kaum Stellungnahmen und
Forderungen hinsichtlich des Musizierens, die heute noch überliefert wären. Um
diese Ungleichheit der überlieferten Perspektiven zu relativieren, sind Quellen not-
wendig, die eine breitere Darstellung unterschiedlicher Perspektiven ermöglichen.
Die Entscheidung fiel auf lebensgeschichtliche Erzählungen von Musizierenden.
1 „Die Frage, die in der Analyse historischer Quellen zu klären ist, ist mithin welche Kombi-
nation von Aussagen in einer bestimmten historischen Gesellschaft Geltung beanspruchen
können und als ‚Wahrheiten‘ anerkannt werden.“ (Vana, Gebrauchsweisen, 224).
2 „Die verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen sind in einem im eigentlichen Sinn sym-
bolischen Kampf engagiert, um jene Definition der sozialen Welt durchzusetzen, die ihren
Interessen am meisten entspricht.“ (Pierre Bourdieu, Über die symbolische Macht, 560).
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Buch Über die Produktion von Tönen - Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938"
Über die Produktion von Tönen
Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Titel
- Über die Produktion von Tönen
- Untertitel
- Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Autor
- Georg Schinko
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20802-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Music-making, Musician, Work, Vocation, Art, Austria, Correspondence analysis, Life Writing, Interwar period --- Musizieren, Musiker, Arbeit, Beruf, Kunst, Österreich, Korrespondenzanalyse, Lebensgeschichtliche Erzählung, Zwischenkriegszeit
- Kategorie
- Kunst und Kultur