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3.1 Verwendungen in den Geschichtswissenschaften
Lebensgeschichtliche Erzählungen wurden in den letzten Jahrzehnten vermehrt
als Quelle sozialgeschichtlicher Forschung verwendet. Autobiografien bedeuten-
der Persönlichkeiten waren bereits im Historismus eine zentrale Quelle, verloren
jedoch seit den 1960er- Jahren zunehmend an Bedeutung. Die kulturgeschichtliche
Wende der 1980er- Jahre brachte auch eine verstärkte Hinwendung zu autobiografi-
schen Materialien.6 Teils erhebliche Unterschiede gibt es jedoch in der Einschätzung
darüber, welchen Quellenwert lebensgeschichtliche Erzählungen haben, sowie in
der Art ihrer Verwendung als Quelle. Volker Depkat zieht hier eine negative Bilanz:
Dominant ist weiter ein Umgang mit autobiographischen Texten, der diese im mehr oder
weniger naiven Durchgriff auf eine hinter ihnen stehende historische Realität liest und
sich um die Textualität der Texte und die narrativen Strukturen der in ihnen erzählten
Welten nur wenig oder überhaupt nicht kümmert. Vielfach werden Autobiographien so
zu einem bloßen Steinbruch für eine Vielzahl von historischen Fakten, und zwar vorwie-
gend solchen Fakten, die sich aus anderen, vermeintlich zuverlässigerem Quellenmaterial
wie beispielsweise Regierungsakten nicht gewinnen lassen.7
Zu einem ähnlichen Urteil über die Verwendung von Autobiografien in den
Geschichtswissenschaften kommt auch Carsten Heinze.8 Kaspar von Greyerz hin-
gegen sieht diesen Zugang zu autobiografischen Texten in den Geschichtswissen-
schaften als überholt und nur mehr wenig praktiziert an:
If nothing else, [the shift towards cultural history, G. S.] destroyed the methodological
naiveté, or rather thoughtlessness, with which most historians had approached autobiogra-
phies, diaries and family chronicles as historical sources during the 1980s. We were strongly
and repeatedly alerted to the fact that this source material is by and large constructed, and
that, as a result, it offers little direct access to the daily concerns and thoughts, let alone
the actions, of the author being studied.9
Während Depkat sein Urteil auf eine quantitative Auswertung einer Vielzahl his-
torischer Forschungen der 1990er- und 2000er- Jahre stützt, beschäftigt sich von
Greyerz mit den neuesten theoretischen Konzeptionen bezüglich Ego- Dokumenten.
6 Depkat, Stand, 171 ff.
7 Ebd., 175.
8 Heinze, Autobiographie, 96 f.
9 von Greyerz, Ego- Documents, 275.
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Lebensgeschichtliche Erzählungen als historische
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Über die Produktion von Tönen
Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Titel
- Über die Produktion von Tönen
- Untertitel
- Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Autor
- Georg Schinko
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20802-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Music-making, Musician, Work, Vocation, Art, Austria, Correspondence analysis, Life Writing, Interwar period --- Musizieren, Musiker, Arbeit, Beruf, Kunst, Österreich, Korrespondenzanalyse, Lebensgeschichtliche Erzählung, Zwischenkriegszeit
- Kategorie
- Kunst und Kultur