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Es ist daher eine Diskrepanz zwischen der Mehrheit an Untersuchungen der letz-
ten zwei Jahrzehnte, die lebensgeschichtliche Erzählungen als eine von mehreren
Quellen benutzen, und einigen wenigen neueren, auf die methodischen und theo-
retischen Aspekte von lebensgeschichtlichen Erzählungen spezialisierten Arbeiten
anzunehmen
– Grund genug, noch einmal die ‚traditionelle‘ Verwendung von lebens-
geschichtlichen Erzählungen als historische Quelle zu problematisieren.
Werden lebensgeschichtliche Erzählungen nur als Ansammlung von Daten über
das Leben des/der ErzählerIn gesehen
– Geburtsort, Beruf, Beschäftigungen etc.
–,
dann geht der Repräsentationscharakter der Erzählung verloren.10 Denn eine Erzäh-
lung wird ja so und nicht anders erzählt – unter Verwendung bestimmter Begriffe,
mittels einer bestimmten Erzählstruktur, unter Vermeidung bestimmter Themen 11
–,
weil der/die ErzählerIn sein/ihr Leben nur in einer spezifischen Art und Weise dar-
stellen kann und will.12 Die Verwendung von lebensgeschichtlichen Erzählungen
als Datensammlung lässt damit nicht nur eine Vielzahl an Informationen über die
Form der Erzählung außer Acht, sie stößt – vor allem bei Erzählungen von Perso-
nen mit geringem Bekanntheitsgrad
– schnell an die Grenzen der Verifizierbarkeit
dieser Daten. Sind Geburts- und Sterbedaten noch relativ einfach nachzuprüfen,
so muss bereits die Angabe einzelner Beschäftigungen einfach geglaubt (oder
– bei
entsprechender Einstellung – verworfen) werden. Dies hat dazu geführt, dass in
Teilen der Geschichtswissenschaften lebensgeschichtliche Erzählungen als Quel-
lenart kategorisiert werden, die nur sehr bedingt Auskunft über Vergangenes geben
kann.13 Der ‚Wahrheitsgehalt‘ von Erzählungen wird dann durch den Vergleich mit
anderen, als objektiv angesehenen Quellen überprüft 14 oder es werden Erzählungen
überhaupt nur mehr als exemplarische Illustration der aus anderen Quellen gewon-
nenen Erkenntnisse verwendet. Die Verwendung der Erzählung als Datensammlung
führt so entweder zu einem naiven Faktenglauben (bzw. setzt diesen voraus) oder
aber letztendlich zur Unverwendbarkeit der Erzählung als Quelle (was im Übrigen
auch für viele andere Quellenarten gilt).
10 Vgl. Wadauer, Tour, 64.
11 Vgl. zu Leerstellen und Vermeidungen in Erzählungen etwa Zemon Davis, Enthüllen.
12 „Es gibt keine objektive Erinnerung
[…] Eine Handlung, eine Szene lässt sich nicht erzählen
ohne einen Standpunkt zu wählen“ (Bertaux/Bertaux-
Wiame, Erinnerungen, 149 f., Hervor-
hebung im Original). Vgl. dazu auch Sieder, Geschichten, 210 ff.; Smith/Watson, Autobio-
graphy, 139.
13 Vgl. etwa Fetz, Erzählen, 54; Schulze, Ego- Dokumente, 25.
14 „Geschichtliche Referentialität in der Autobiographie ist der Gradmesser von ‚Wahrheit‘
und Authentizität; ‚Fiktionalität‘ hingegen wird mit Aufweichen der historischen Wahrheit
beziehungsweise ‚Lüge‘ gleichgesetzt.“ (Heinze, Autobiographie, 97).
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Über die Produktion von Tönen
Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Titel
- Über die Produktion von Tönen
- Untertitel
- Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Autor
- Georg Schinko
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20802-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Music-making, Musician, Work, Vocation, Art, Austria, Correspondence analysis, Life Writing, Interwar period --- Musizieren, Musiker, Arbeit, Beruf, Kunst, Österreich, Korrespondenzanalyse, Lebensgeschichtliche Erzählung, Zwischenkriegszeit
- Kategorie
- Kunst und Kultur