Seite - 78 - in Über die Produktion von Tönen - Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
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Eine häufige Verwendung von lebensgeschichtlichen Erzählungen ist ihre Ein-
beziehung zum Nachweis von gemeinsamen Praktiken, Mentalitäten, Attributen etc.
von Kollektiven. Problematisch ist dabei die a- priori- Zuordnung zu einem Kollektiv,
die die Erzählung von Anfang an etwa als eine Bürger-, Handwerker- oder andere
Erzählung auffasst. „Solche Konstruktionen erfordern stets eine strenge Scheidung
von dem, was dem Forscher entsprechend seines Vor-
Wissens als typisch, und dem,
was ihm als untypisch erscheint: eine Abschätzung der Selbstpräsentationen nach
einem immer schon verstandenen Hintergrund einer Normal- Kollektivbiographie“.15
Eine Erzählung wird dabei stets in einen individuellen (höchstens psychologisch
wertvollen) und einen kollektiven (den eigentlich interessanten) Teil getrennt.
Dabei deutet einiges darauf hin, dass die Art dieser Einteilung nicht unabhängig
von der Positionierung des/der Erzählenden ist: „Je dominierter Autor und Stil
erscheinen, umso weniger gilt der Text für sich, umso eher wird er als Ausdruck
eines Kollektiven begriffen“.16 Die unklaren und sich ändernden Grenzen solcher
Gruppierungen sowie die Mehrdimensionalität von Identität geraten bei einer
derartigen a- priori- Zuordnung aus dem Blickfeld. Damit ist nicht gesagt, dass die
Zugehörigkeit zu Kollektiven für lebensgeschichtliche Erzählungen irrelevant wäre,
wie Überlegungen zu kollektiven Erinnerungen zeigen.17 Der Bezug auf kollektive
Praktiken kann jedoch erst Resultat und nicht Vorbedingung der Untersuchung
von Erzählungen sein.
Nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort wurden lebensgeschichtliche Erzählungen
auf annähernd gleiche Art und Weise verfasst. Der Bezug auf sie verlangt nach einer
Historisierung der Praktik, von sich selbst zu erzählen. So veränderten sich etwa
Vorstellungen von der eigenen Individualität, der eigenen Bedeutung in der Gesell-
schaft und der Beziehung zu lokalen Gruppen im Laufe der letzten Jahrhunderte teils
beträchtlich.18 Derartige Veränderungen blieben nicht ohne Auswirkungen auf die
Praktiken des Erzählens. Lebensgeschichtliche Erzählungen zu verwenden, verlangt
auch nach einer Berücksichtigung jener Gruppen, die nicht oder nur eingeschränkt
bleibende Aufzeichnungen über ihre Lebensgeschichte hinterließen: „Der Raum
der Möglichkeiten beginnt nicht erst mit den Bedingungen und den Effekten der
Eloquenz.“ 19 Nicht nur die Fähigkeit des Schreibens (bzw. die Konfrontation mit
einem Aufnahmegerät) ist dafür maßgeblich, sondern etwa auch das Verständnis
15 Wadauer, Tour, 59. Vgl. dazu etwa auch Fuchs, Möglichkeiten, 454 f.
16 Wadauer, Tour, 57.
17 Smith/Watson, Autobiography, 19 f.
18 Vgl. etwa zum Wandel von Konzepten wie Individualität im Laufe der Jahrhunderte Jancke,
Autobiographie, 27 ff.
19 Wadauer, Tour, 86.
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Über die Produktion von Tönen
Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Titel
- Über die Produktion von Tönen
- Untertitel
- Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Autor
- Georg Schinko
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20802-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Music-making, Musician, Work, Vocation, Art, Austria, Correspondence analysis, Life Writing, Interwar period --- Musizieren, Musiker, Arbeit, Beruf, Kunst, Österreich, Korrespondenzanalyse, Lebensgeschichtliche Erzählung, Zwischenkriegszeit
- Kategorie
- Kunst und Kultur