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des eigenen Lebens als linearer Abfolge,20 der Wunsch die eigene Geschichte dar-
zustellen und die Annahme, dass sie für andere von Interesse wäre.21 Die Verteilung
jener, die Erzählungen verfassen, war und ist in der Gesellschaft nicht unabhängig
von den Ansprüchen der Erzählenden auf spezifische Positionen. Die ausschließ-
liche Verwendung von lebensgeschichtlichen Erzählungen (oder einer engeren Kate-
gorie von Quellen wie etwa Autobiografien) läuft damit Gefahr, die Perspektiven
derer, die nicht erzählen, auszublenden. Dieser blinde Fleck muss anerkannt und
reflektiert werden, um den Raum des Musizierens nicht auf den der (anerkannten)
Schreibenden zu reduzieren.
3.2 Erzählen als Praktik
Die oben beschriebene Problematisierung einer naiven Verwendung von lebensge-
schichtlichen Erzählungen führt zu einer veränderten Sichtweise darauf, was diese
eigentlich darstellen und wie sie sinnvoll verwendet werden können. Erzählungen
berichten nicht darüber, ‚was wirklich geschehen ist‘. Versteht man jedoch Erzäh-
len als Praktik,22 die mit der Position des Erzählers/der Erzählerin in einem sozia-
len Raum zusammenhängt,23 so wird über die Art, wie die Erzählung konstruiert
wurde, ein Teil der Struktur dieses Raums zugänglich. Was wie beschrieben wurde,
zeigt an, wo eine Person sich positionieren wollte. Eine derartige Verwendung von
Erzählungen verlangt allerdings eine größere Anzahl davon, da Positionierungen in
sozialen Räumen nur sinnvoll angegeben werden können, wenn man auch deren Mit-,
Neben- und Gegenpositionierungen kennt.24 Wird Erzählen konsequent als Praktik
verstanden, dann erübrigt sich auch die Frage nach der historischen Wahrheit der in
Erzählungen behaupteten Ereignisse und Handlungen. Die geschilderten Ereignisse
mögen sich
– aus der Perspektive des/der Erzählenden
– so zugetragen haben oder
ganz und gar anders. Wesentlich ist der Anspruch, den der/die Erzählende durch
die Kombination aller Erzählpraktiken einer Erzählung auf eine bestimmte Posi-
tion erhob. Keinesfalls darf dieses Spiel um Positionen aber deshalb als Schauspiel
fernab einer wie auch immer definierten historischen Realität verstanden werden.
20 Fuchs, Möglichkeiten, 456.
21 Vgl. dazu Garstenauer, Lebensgeschichten, 205 f.
22 Israel, Place; Wadauer, Tour, 55 ff.
23 Bourdieu, Illusion; Ders., Raum. Vgl. dazu auch Smith/Watson, Autobiography, 145: „posi-
tionality […] to designate how subjects are situated at particular axes through the relations
of power.”
24 Bourdieu, Praxis, 262. Erzählen als Praktik 79
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Über die Produktion von Tönen
Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Titel
- Über die Produktion von Tönen
- Untertitel
- Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Autor
- Georg Schinko
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20802-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Music-making, Musician, Work, Vocation, Art, Austria, Correspondence analysis, Life Writing, Interwar period --- Musizieren, Musiker, Arbeit, Beruf, Kunst, Österreich, Korrespondenzanalyse, Lebensgeschichtliche Erzählung, Zwischenkriegszeit
- Kategorie
- Kunst und Kultur