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von mir aber zugunsten der Thematisierung der sozialen Positionen, die durch die
Praktik des Erzählens vertreten werden, in den Hintergrund gestellt. Aus welchen
individuellen Motiven und in welchen individuellen Kontexten auch immer erzählt
wurde, der/die ErzählerIn blieb an die Perspektiven, die mit seiner/ihrer Position
einhergingen, gebunden. Daher steht hier der systematische und relationale Ver-
gleich von Erzählungen im Vordergrund. Ein derartiger Vergleich erfordert auch
die Standardisierung der untersuchten Erzählungen, d. h. ihre jeweils gleichartige
Kategorisierung und (im weiteren Sinne) Quantifizierung.31 Allerdings handelt es
sich bei den sogenannten quantitativen Verfahren der (Auto-)Biografieforschung,
die unter dem Begriff der Lebenslaufforschung in der Sozialgeschichte und vor
allem der Soziologie bereits Verwendung finden, vor allem um „objektivierende“
Verfahren, die, wie weiter oben beschrieben, Erzählungen nur als Ansammlung von
Daten betrachten. Es handelt sich dabei nach Kauppert um „jene [Verfahren, G. S.],
die einen objektiven Erklärungsanspruch von Lebensverläufen verfolgen“.32 Was
noch einigermaßen durchführbar erscheint, solange man sich auf Informationen
wie Geburts- oder Heiratsdatum beschränkt, wird unmöglich, wenn – so wie in
dieser Arbeit – die unterschiedlichen Arten und Weisen von Musizierenden, sich
auf Musizieren und Singen zu beziehen, beschrieben werden sollen. Die Annahmen
einer derartigen Lebenslaufforschung sind mit der Überlegung, dass Strukturierung
und Inhalt einer lebensgeschichtlichen Erzählung als Ansprüche auf eine spezifi-
sche Positionierung konstruiert wurden, nicht vereinbar. In dieser Untersuchung soll
demgegenüber der Versuch gemacht werden, sowohl Kontexte als auch Strukturen
der Erzählungen zu berücksichtigen, ohne dabei in Einzelbeschreibungen ohne
systematischen Zusammenhang zu verharren.
In meiner Untersuchung des Musizierens der Zwischenkriegszeit werden daher
lebensgeschichtliche Erzählungen als Praktiken des Erzählens aufgefasst, die den
Versuch einer Positionierung in einem sozialen Raum darstellen. Jede Erzählung
stellt eine spezifische Perspektive auf das zu untersuchende historische Phänomen
dar
– eine bestimmte Art und Weise, davon zu sprechen und es zu charakterisieren.
Auf diese Weise tragen Erzählungen wiederum zur Erzeugung dieser historischen
Phänomene bei. Vergleicht man eine Reihe von Erzählungen, die über ein Phänomen
sprechen, so werden sowohl die Struktur der Positionierungen als auch die zentra-
len Konfliktobjekte, d. h. die Referenzen, auf die hin sich Erzählungen vorrangig
(ob negativ oder positiv) beziehen und zu deren Legitimierung oder Delegitimie-
rung sie dadurch gleichzeitig beitragen, beschreibbar. Das Ziel der Untersuchung
ist nicht die Erzeugung eines Abbildes eines wie auch immer gearteten ‚Raumes
31 Siehe dazu Kapitel 4 zur Technik der multiplen Korrespondenzanalyse.
32 Kauppert, Erfahrung, 19.
Open Access © 2019 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CO. KG, WIEN KÖLN WEIMAR
Lebensgeschichtliche Erzählungen als historische
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Über die Produktion von Tönen
Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Titel
- Über die Produktion von Tönen
- Untertitel
- Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918 – 1938
- Autor
- Georg Schinko
- Ort
- Wien
- Datum
- 2019
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20802-0
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 310
- Schlagwörter
- Music-making, Musician, Work, Vocation, Art, Austria, Correspondence analysis, Life Writing, Interwar period --- Musizieren, Musiker, Arbeit, Beruf, Kunst, Österreich, Korrespondenzanalyse, Lebensgeschichtliche Erzählung, Zwischenkriegszeit
- Kategorie
- Kunst und Kultur