Seite - 9 - in Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren - Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
Bild der Seite - 9 -
Text der Seite - 9 -
Einleitung
Auf heutige Betrachter wirken Tragsessel wie ein Kuriosum einer längst vergangenen Epo-
che,1 das in trefflicher Weise soziale Unterschiede versinnbildlicht: Vertreter der Ober-
schicht ließen sich in oftmals aufwendig gestalteten Tragevehikeln in ihren Palästen oder
auf den Straßen der Stadt von ihren in kostbare Livreen gekleideten Dienern transportie-
ren, erhoben sich auf diese Weise über den unreinen Boden und entrückten sich damit
auch symbolisch dem einfachen Volk. Die Sesselträger, deren Tätigkeit eine erhebliche
Kraftanstrengung erforderte, übernahmen dabei jene Rolle, die bei anderen Transport-
mitteln Pferden oder Maultieren zufiel. Das Bild einer mächtigen Person, die sich im
Tragsessel befördern lässt, ist von enormer Wirkkraft. Während es in früheren Zeiten in
Anbetracht der damit verbundenen Prunkentfaltung wohl häufig Ehrfurcht und Staunen
hervorrief, fördert es heute vermutlich eher ein Gefühl der Empörung über eine arrogante
Zurschaustellung von Macht zu Tage und erregt Mitleid mit den in mehrfacher Hinsicht
erniedrigten Trägern. Tatsächlich ist es aber noch gar nicht so lange her, dass Tragsessel
aus dem zeremoniellen Kontext verschwunden sind: Erst nach dem kurzen Pontifikat von
Johannes Paul I. im Jahr 1978 fand das Zeitalter der Tragsessel in Europa sein wohl endgül-
tiges Ende. Politische Machthaber im Tragsessel sind heute selbst im traditionsbewussten
Vatikan undenkbar und würden wohl einen öffentlichen Sturm der Entrüstung hervor-
rufen.2
Zum Gegenstand der Forschung wurden Tragsessel bereits zu einem relativ frühen Zeit-
punkt. Im Jahr 1737 veröffentlichte Carl Christian Schramm, Amtsrat der Reichsgrafen
zu Solms, in Nürnberg ein Buch mit dem ausschweifenden Titel „Abhandlungen der Por-
te-Chaise oder Trage-Sänfften durch Menschen oder Thiere, in allen vier Theilen der Welt,
nach der Critic, Mechanic, Historie, dem Recht, wie auch Cammer- und Policey-Wesen
ausgeführet und erläutert mit Urkunden und Kupffern“. Schramm verfolgte mit seiner
1 Ausgenommen von diesen Betrachtungen sind natürlich sesselartige Krankentragen, die bis heute
von Rettungsdiensten und in Krankenhäusern verwendet werden.
2 Zur aktuellen Situation im Vatikan siehe auch den Beitrag von Claudia Märtl im vorliegenden
Band. Hiervon nicht betroffen sind übrigens Politiker und Prominente unserer Zeit, die mit ei-
ner explizit ironischen Grundhaltung im Rahmen von Festveranstaltungen Sesselträgerdienste in
Anspruch nehmen. Siehe hierzu die Kundenliste des österreichischen „Sänftendienstes“ „Flinker
Hirsch“, der sich für Events unterschiedlichster Art buchen lässt: http://members.aon.at/saenften-
dienst/ (letzter Zugriff: 16.08.2016).
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Titel
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Untertitel
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Autor
- Mario Döberl
- Herausgeber
- Alejandro López Álvarez
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Abmessungen
- 17.5 x 24.7 cm
- Seiten
- 432
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918