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20 Claudia Märtl
die Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch, dass die sedia gestatoria auf einer „predella“ befestigt
war, an der seitlich vergoldete Eisenringe für die Tragstangen angebracht wurden.27 In der
Tat zeigen alle Stiche und Aufnahmen des 19. und 20. Jahrhunderts die Päpste auf einem
Sitz, der auf einer Plattform montiert war, die mittels Stangen auf den Schultern der Träger
lastete. Der Papst erschien dadurch in ganzer Figur über den Köpfen der Menge. Für das
religiöse Empfinden des 19. Jahrhunderts unterstrich die gelegentliche Verwendung des
Tragethrons zusammen mit einem Baldachin und Fächern, die damals noch aus Pfauenfe-
dern bestanden, die Erhabenheit und Ehrwürdigkeit dieser Art der päpstlichen Fortbewe-
gung.28 Beide Elemente wurden im 20. Jahrhundert aber immer öfter weggelassen, sodass
bei Johannes Paul I. nur mehr der Tragethron auf der Plattform übrig geblieben war. Seit
Johannes Paul II. (1978–2004) lehnen die Päpste die sedia gestatoria als unzeitgemäß ab.
Auf vielen Websites, zumal solchen englisch-, italienisch- und deutschsprachiger Tradi-
tionalisten, herrscht heute eine gewisse nostalgische Sehnsucht nach diesem päpstlichen
Fortbewegungsmittel, doch enttäuschte auch Benedikt XVI. (2004–2013), der nach einer
vierzigjährigen Unterbrechung Mozzetta und Camauro wieder eingeführt hatte, entspre-
chende Hoffnungen, die im Jahr 2011 nach Nachrichten von Gehbeschwerden des Papstes
aufgekeimt waren. Außerhalb traditionalistischer Kreise ist die Interpretation verbreitet,
dass die Päpste die sedia gestatoria durch andere Transportmittel wie das „Papstmobil“ er-
setzt hätten.
2 Der erste Versuch einer historischen Erklärung: José Estefan (1578/1588)
Historische Herleitung und Begründung des Einsatzes der sedia gestatoria folgen in den
gängigen Nachschlagewerken29, neuerdings auch in digitalen Angeboten, häufig Denk-
mustern, die sich bereits in den Anfängen der Diskussion im 16. Jahrhundert herausbilde-
27 Gaetano Moroni, Sedia e sedie de’ papi. In: ders., Dizionario di erudizione storico-ecclesiastica,
Bd. 63 (Venezia 1853), S. 195.
28 Moroni 1853 (wie Anm. 7), S. 196: „Pertanto riesce imponente e sublime tutto il complesso che si
ammira nel vedere il papa portato in alto così decorosamente e con tanto splendore sul trono della sedia
gestatoria.“ Es ist nicht klar, wann die bei Moroni noch eigens symbolisch gedeuteten Pfauenfedern
der flabella durch Federn anderer Vögel – allem Anschein nach Straußenfedern – ersetzt wurden.
29 Vgl. nur in Auswahl: Philippe Levillain, Sedia gestatoria. In: ders. (Hg.), Dictionnaire histori-
que de la papauté (Paris 1994), S. 1559 f.; Georg Kreuzer, Sedia (Sella) gestatoria. In: Lexikon des
Mittelalters, Bd. 7: Planudes bis Stadt (Rus’) (München 1995), Sp. 1665 f.; Klaus Peter Dannecker,
Sedia gestatoria. In: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9: San bis Thomas (Freiburg/Br. u.a.
32000), Sp. 365; Bernard Berthod/Pierre Blanchard, Trésors inconnus du Vatican. Cérémonial
et liturgie (Paris 2001), S. 312 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Titel
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Untertitel
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Autor
- Mario Döberl
- Herausgeber
- Alejandro López Álvarez
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Abmessungen
- 17.5 x 24.7 cm
- Seiten
- 432
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918