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wiesen hätten (Abb. 17). Vor allem in den kalten Wintermonaten, wenn die Straßen mit
Schnee und Morast bedeckt seien, böten sie eine gute und kostengünstige Alternative zu
Kutschen. Freschot berichtete weiterhin, dass an vielen Orten Wiens, ja fast in jeder Gasse
der Stadt, Unterstandplätze für Miettragsessel errichtet worden seien, wo zu allen Tag- und
Nachtzeiten Sesselträger ihre Dienste feilböten. Lobend hob er hervor, dass Kunden zwi-
schen schlichten und äußert prachtvoll ausgeführten Tragsesseln wählen könnten und somit
auch für sozial höhergestellte Personen standesgemäße Exemplare vorhanden seien. Beson-
ders bei Damen, so Freschot weiter, seien Miettragsessel äußerst beliebt, ja sie würden sogar
lieber auf Sessel als auf ihre eigenen Karossen zurückgreifen, da ihnen Erstere ein höheres
Maß an Anonymität im öffentlichen Raum ermöglichten.356 Wenn wir Freschots Einschät-
zungen folgen – und es besteht kein Grund, dies nicht zu tun357 –, war die Einführung von
Miettragsesseln in Wien ein voller Erfolg. Erst im Lauf des 19. Jahrhunderts geriet dieses
öffentliche Verkehrsmittel in der kaiserlichen Residenzstadt aus der Mode, bis schließlich im
Jahr 1888 der letzte Wiener Sesselträger sein Gewerbe niederlegte.358
6 Quellenanhang
6 1 Tragsessel in den kaiserlichen Marstallinventaren von 1678
Kurz nach seinem am 23. November 1677 erfolgten Amtsantritt als kaiserlicher Oberst-
stallmeister ließ Ferdinand Bonaventura Graf Harrach eine Generalinventur in seinem
356 Diesen Vorteil von Miettragsesseln hatte bereits der englische Reisende Fynes Moryson bei Aufent-
halten in Neapel und Genua im Jahr 1594 erkannt. Zu Neapel bemerkte er: „[…] one fashion pleased
me beyond measure, that at the end of many streetes they had chaires, vulgarly called Seggioli di Napoli,
which those that are weary doe enter, and they being covered round about, and onely having windowes on
the sides, he that is carried therein, cannot be seene of any, and yet himselfe may see all that passe.“ Fynes
Moryson, An Itinerary Containing His Ten Yeeres Travell through the Twelve Dominions of Ger-
many, Bohmerland, Sweitzerland, Netherland, Denmarke, Poland, Italy, Turky, France, England,
Scotland & Ireland, Bd. 1 (London 1617, Nachdruck Glasgow 1907), S. 239. Anlässlich einer Besich-
tigung Genuas strich Moryson hervor: „The chaires called Seggioli, whereof I spake in the discription
of Naples, are also in use here, in which the Citizens of both sexes are carried upon two Porters shoulders,
through the streetes lying upon the sides of hils, the chaires being covered with a curtaine drawne, and
having glasse windowes, so as they may see all men, and themselves be unseene.“ Ebenda, S. 360.
357 Auch ein früher Wienführer von 1721 zieht ein positives Resümee über die Einführung von Miet-
tragsesseln in Wien: Johann [Valentin] Neiner, Vienna curiosa & gratiosa, oder deß anjetzo le-
bende Wienn, Teil 3 (1721), S. 31 f.
358 Gustav Gugitz, Die Sesselträger in Alt-Wien. In: Jahrbuch des Vereines für Geschichte der Stadt
Wien 8 (1949/50), S. 94–104, hier S. 104.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Titel
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Untertitel
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Autor
- Mario Döberl
- Herausgeber
- Alejandro López Álvarez
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Abmessungen
- 17.5 x 24.7 cm
- Seiten
- 432
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918