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Französische Tragsessel des späten 17 und frühen 18 Jahrhunderts 347
tresse Madame de Maintenon (1635–1719) bediente sich ihrer nicht minder häufig. Kurz,
es schien damals schlicht unmöglich, auf diese bequemen Transportmittel zu verzichten.9
Das Kunstmuseum Petit Palais besitzt einen äußerst prachtvollen Tragsessel, der als
Hervorbringung des Pariser Luxusgewerbes des ausgehenden 17. Jahrhunderts gelten kann
(Abb. 1). Dieses Transportmittel soll sich ursprünglich im Eigentum der Nichte Lud-
wigs XIV., Élisabeth Charlotte de Bourbon-Orléans, genannt Mademoiselle de Chartres,
befunden haben. Im Jahr 1676 geboren, heiratete sie 1698 Herzog Leopold Joseph von
Lothringen (1679–1729). Die auf den Kastenpaneelen dargestellten Wappen beider Fami-
lien sprechen dafür, dass die Vermählung wohl auch den Anlass für die Herstellung des
Tragsessels bot. Die Form des Tragsessels gleicht jener von anderen, einfacheren Exemp-
laren derselben Epoche10: gerade Linien, eine leichte Ausbuchtung des Kastens unterhalb
der Seitenfenster und ein gewölbtes Dach. Die vergleichsweise strenge Silhouette kont-
rastiert mit der Fülle an dekorativen Elementen: auf Goldgrund gemalte Arabesken, fein
geschnitzte Zier- und Sockelleisten und raffiniert eingesetzte Metallbeschläge, die nicht
versteckt, sondern vielmehr mit großer Sorgfalt ausgearbeitet wurden, angefangen von den
Bändern, die den Kasten verstärken, über die Bügel zur Fixierung der Trageholme bis hin
zu den Fenster- und Türangeln.
Bemerkenswert ist auch die malerische Ausstattung des Tragsessel, die vielfach Anspie-
lungen auf das Haus Lothringen aufweist. Sie zeigt unter anderem Allegorien auf Ruhm,
Sieg, Geschichte und Zeit, mythologische Figuren wie Mars und Amor, Arabesken und
Girlanden. All diese Elemente sind von einem Netz aus Blattwerkmotiven eingefasst. Der
Entwurf für den Dekor wird dem Zeichner und Graveur Sébastien Le Clerc (1637–1714)
zugeschrieben.11 Nachdem Le Clerc einige Zeit in der Gobelin-Manufaktur gearbeitet
hatte, erhielt er den Ruf der Académie Royale de Peinture et de Sculpture, wo er Perspektive
unterrichtete. Er gilt als außergewöhnlich produktiv – mehr als 3000 Tafeln mit Entwür-
fen von seiner Hand sind erhalten – und wurde von seinen Zeitgenossen für seine techni-
schen Fähigkeiten und sein Talent für gelungene Kompositionen sehr geschätzt, also für
Qualitäten, die sich auch in unserem Tragsessel widerspiegeln.
trois de nos rois […] s’est servi pour vivre près de cent ans (Caen 1683), zit. nach Havard 1894 (wie
Anm. 7), Bd. 1, S. 656.
9 Delamare 1738 (wie Anm. 5), Bd. 4, Kapitel 2, Abschnitt 3, S. 449.
10 Vgl. zum Beispiel die Tragsessel von Schloss Aulteribe in der Auvergne (klassifiziert als „Monument
Historique“ – eine historische Reproduktion ist auf der Ministeriumsdatenbank Palissy verfügbar),
im Museum Henri-Barré in Thouars, in der Maison Louis XIV in Saint-Jean-de-Luz (Privatsamm-
lung) und im Musée Fenaille in Rodez, abgebildet in Maggiani 2007 (wie Anm. 4), Bd. 2, Trag-
sessel Nr. 6 und 7.
11 Vgl. den Online-Katalog der „Collections patrimoniales de Paris“: http://a80-musees.apps.paris.fr/
(letzter Zugriff: 16.08.2016).
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Titel
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Untertitel
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Autor
- Mario Döberl
- Herausgeber
- Alejandro López Álvarez
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Abmessungen
- 17.5 x 24.7 cm
- Seiten
- 432
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918