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Französische Tragsessel des späten 17 und frühen 18 Jahrhunderts 351
Molière (1622–1673) bezeichnete sie 1659 in seiner Komödie „Les Précieuses ridicules“ als
„un retranchement merveilleux contre les insultes de la boue et du mauvais temps“. Der Mar-
quis von Mascarille vermied in diesem Stück mit Hilfe eines Tragsessels die Exponierung
der „l’embonpoint de [ses] plumes aux inclémences de la saison pluvieuse, et [d’] imprimer [ses]
souliers en boue“17.
Vergessen wir nicht, welch schmutziger, übel riechender und gefährlicher Ort die Stra-
ßen des Ancien Régime waren. Sie waren zumeist eng und verwinkelt, und häufig ver-
sperrten Straßenhändler sowie verschiedene Hindernisse den Weg. Zudem war das Pflaster
für gewöhnlich von Abfall übersät und rutschig. Der Schriftsteller und Kritiker Nicolas
Boileau (1636–1711), ein Zeitgenosse Molières, bemerkte in seinem berühmten, 1666 veröf-
fentlichten Werk „Embarras de Paris“, die Straßen von Paris seien „si plein de carrosses qu’on
ne peut passer dans une seule rue sans embarras et sans blesser ou tuer quelqu’un“18. Besonders
nach dem Ende von Theateraufführungen und ähnlicher Spektakel trat häufig der Fall
ein, dass Tragsessel oder Karossen einander den Weg versperrten. Es kam dann zuweilen
vor, dass das jeweilige Dienstpersonal aufeinander einschlug, um dem Vehikel des eigenen
Herren oder der eigenen Dame freie Bahn zu verschaffen.19 Wagen oder Tragsessel boten
in solchen Fällen den darin beförderten Personen Schutz vor derartigen außerhalb des
Transportgehäuses gewaltsam ausgetragenen Konflikten. Noch wichtiger war aber zwei-
fellos eine andere Funktion der Vehikel: Sie halfen dabei, eine deutlich sichtbare Distanz
zwischen dem einfachen Volk und den Mitgliedern der Oberschicht zu schaffen.
Hervorzuheben ist, dass Besitzer von Tragsesseln nicht zwangsläufig Mitglieder der
Aristokratie sein mussten. Zwar zeichnete sich die französische Gesellschaft des Ancien
Régime durch eine stark hierarchisierte, Ungleichheiten befördernde Sozialstruktur aus,
jedoch zählten Tragsessel zu keiner Zeit zu den Privilegien des Adels,20 auch wenn die Ver-
wendung von Tragsesseln genauso wie jene von Kutschen einen Lebensstandard voraus-
setzte, den sich nur Wohlhabende leisten konnten, wie etwa Prälaten, Parlamentarier, Mit-
glieder kommunaler und königlicher Gremien oder Vertreter des niederen Adels. Gleich
dem Wohnsitz oder der Kleidung war auch der Besitz eines Tragsessels ein Indikator für
17 Molière, Les Précieuses ridicules (1659), Szenen 7 und 9.
18 Elisabeth-Charlotte de Bavière, Mélanges historiques, anecdotiques et critiques sur la fin du règne
de Louis XIV et le commencement de celui de Louis XV (Neuedition Paris 1807), S. 371.
19 „Les fêtes nocturnes du Cour“, Komödie in einem Akt von Dancourt (1714). Zitiert nach Octave
Uzanne, La locomotion à travers l’histoire et les mœurs (Paris 1900), S. 113.
20 Während der Revolution war es übrigens stets erlaubt, das eigene Vehikel zu benutzen, vorausge-
setzt, die Wappen waren verdeckt. Der 3. Artikel des Dekrets vom 27. September/16. Oktober 1791
behandelt unter anderem Sanktionen für Personen, die „placeraient des armoiries sur leurs maisons
ou sur leurs voiture“. Tatsächlich lässt sich an mehreren Tragsesseln beobachten, dass die Wappen
mit einer Farbschicht überdeckt wurden, um sie so unsichtbar zu machen.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Titel
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Untertitel
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Autor
- Mario Döberl
- Herausgeber
- Alejandro López Álvarez
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Abmessungen
- 17.5 x 24.7 cm
- Seiten
- 432
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918