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Französische Tragsessel des späten 17 und frühen 18 Jahrhunderts 371
Wappenschild mit drei goldenen Lilien auf blauem Grund. Der Wappenschild ist seiner-
seits mit Kollanen der Ritterorden von Saint-Michel und Saint-Esprit behängt. Darüber
ist die Vehikelnummer zu sehen. Ende des 17. Jahrhunderts zirkulierten in Versailles wohl
Dutzende baugleiche Tragsessel. Die Bemalung des Tragsessels weist auf eine serienmäßige
Herstellung hin, für die vermutlich auch schablonenartige Vorlagen Verwendung fanden.
Eine Überprüfung dieser Annahme würde jedoch noch eine gesonderte Untersuchung
erfordern.
6 Das Ansehen der Sesselträger
Einigen Tragsesseln widerfuhr eine überraschend grobe Behandlung. Anlässlich der Ge-
burt des Herzogs von Burgund, des ersten Enkelsohns König Ludwigs XIV., wurden im
August 1682 Freudenfeste veranstaltet. Damals trugen Sesselträger mit einer unorthodoxen
Methode, ihre Vehikel zu beleuchten, zur allgemeinen Erheiterung bei. Um das Freuden-
feuer noch weiter zu nähren, rissen sie Bretter aus dem Kastenboden ihrer vergoldeten
Tragsessel. Der König war darüber keineswegs erzürnt, da er darin eine Liebesbekundung
gegenüber seiner eigenen Person und dem neugeborenen Prinzen erkannte.59
Episoden wie diese trugen aber nicht eben zu einer Steigerung des ohnehin stark ram-
ponierten Ansehens der Sesselträger bei. Im 1660 erschienenen „Dictionnaire des pré-
cieuses“ werden sie abwertend als „mulets baptisés“ – getaufte Maultiere – bezeichnet,
an anderer Stelle nannte man sie „bricoliers“, abgeleitet von den Schulterriemen, die ih-
nen den Tragedienst erleichterten. Offenbar verstießen vor allem die Träger von Miet-
tragsesseln häufig gegen geltende Gesetze. Zahlreiche, zumeist aus dem 18. Jahrhundert
datierende Polizeiverfügungen liefern Informationen zu den vorgegebenen Haltestellen
für Miettragsessel und über verschiedenste Preistarife, die für einfache Wegstrecken be-
ziehungsweise die stunden- oder halbtageweise Nutzung galten.60 Derartige Regelungen
wurden getroffen, um schon im Vorfeld potentielle Konflikte zwischen den Sesselträ-
gern und ihren Kunden so weit als möglich auszuräumen. Dies zeitigte aber nur bedingt
Erfolge: Aus verschiedenen Quellen geht hervor, dass sich Sesselträger häufig strafbarer
59 Uzanne 1900 (wie Anm. 19), S. 115.
60 Die 1680 für Marseille festgelegten Statuten bestimmten, dass zwei Träger zwar mit jeweils zwei
Tragsesseln arbeiten durften, untersagten jedoch unter Strafe, mehr als nur einen davon pro Tag
tatsächlich einzusetzen. Es war ihnen allerdings gestattet, den außer Betrieb stehenden Tragsessel
anderen Sesselträgern zur Verfügung zu stellen. Auf keinen Fall durften die Tragsessel aber an
einem anderen als dem ihnen zugewiesenen Platz auf Kunden warten. AMM, HH 423, 1680 Sep-
tember 4.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Titel
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Untertitel
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Autor
- Mario Döberl
- Herausgeber
- Alejandro López Álvarez
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Abmessungen
- 17.5 x 24.7 cm
- Seiten
- 432
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918