Seite - 376 - in Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren - Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
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mehreren Sesselträgern geschulterte Plattform, auf der ein Thron befestigt war, während
die Päpste bei anderen Gelegenheiten eine sedia minor oder parva benutzten, bei welcher
der Sessel selbst seitlich mit Tragstangen versehen war. Das genaue Aussehen der verschie-
denen Typen früher päpstlicher Tragsessel, die sich allesamt nicht erhalten haben, ist uns
vor allem durch mehrere repräsentative Fresken des 16. Jahrhunderts überliefert, die von
Pinturicchio, Raffael und Vasari geschaffen wurden. Die protestantische Bildpropaganda
griff fallweise ebenfalls zu Darstellungen des Papstes auf der sedia gestatoria, um derart den
ausufernden weltlichen Prunk des Heiligen Stuhls anzuprangern.
Über von Rom ausgehende Verbreitungswege für Tragsessel im Rahmen des Hofzere-
moniells beziehungsweise für den privaten Gebrauch liegen bislang keine konkreten Infor-
mationen vor. Bei Betrachtung der weiteren Entwicklungen auf der Apenninen-Halbinsel
fällt jedoch auf, dass sich auch in anderen Städten Tragsessel verhältnismäßig früh etablier-
ten, so etwa in Genua und Neapel. Leider liegen die Anfänge hierfür im Dunkeln. Im Jahr
1560 finden sich im Nachlassinventar des damals verstorbenen Genuesen Andrea Doria
bereits acht zum Teil reich ausgestattete Tragsessel. Dabei handelte es sich gewiss um kei-
nen Einzelfall. Wahrscheinlich waren zu jenem Zeitpunkt Tragsessel in Genua schon weit
verbreitet. Aus den letzten Jahren des 16. Jahrhunderts stammende Reiseberichte schil-
dern die dort unter Männern und Frauen vorherrschende Angewohnheit, sich im urbanen
Raum im Tragsessel transportieren zu lassen. Als Grund dafür wurde in den Relationen
meist auf die topographischen Eigenheiten der Stadt mit ihrer Hanglage und den engen
Gassen verwiesen.
Ähnlich wie in Genua stellt sich die Situation für Neapel dar. Wie mehrere Quellen
eindrücklich demonstrieren, hatten sich auch dort bis Ende des 16. Jahrhunderts Tragsessel
als unverzichtbare städtische Transportmittel durchgesetzt. Der in Mailand weilende Mar-
chese Gioan Battista del Tufo gedachte 1588 in Versform seiner fernen Heimat Neapel und
der Liebe seiner Landsleute zu luxuriösen Tragsesseln. In diesem Zusammenhang äußerte
er die Ansicht, dass in der süditalienischen Metropole anlässlich bedeutender Ereignisse
„tausend“ derartige Tragevehikel für die Vertreter der oberen sozialen Schichten bereit-
stünden. Bei dieser Angabe handelte es sich aber wohl um eine poetische Übertreibung.
Realistischer scheint die Zahl, die ein zwischen 1594 und 1597 in Neapel residierender Bot-
schafter nannte. Er schätzte die Zahl der damals in der Stadt vorhandenen Tragsessel im-
merhin auf etwa 300 Stück. Auch verschiedene Bildquellen belegen eindrücklich die große
Bedeutung, die Tragsessel in Neapel damals bereits erlangt hatten. Auf topographischen
Ansichten und in volkskundlichen Werken aus dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts
stand die formelhafte Wiedergabe einer Dame im Tragsessel in beinahe schon stereotyper
Weise für die Stadt Neapel selbst. Diese Bilder, auf denen die Dame entweder einen den
Passagierbereich verdeckenden Vorhang zur Seite schiebt oder bei denen dieser vom Be-
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Titel
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Untertitel
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Autor
- Mario Döberl
- Herausgeber
- Alejandro López Álvarez
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Abmessungen
- 17.5 x 24.7 cm
- Seiten
- 432
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918