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380 Mario Döberl
unter deren Herrschaft die Rolle von Tragsesseln im Rahmen des Hofzeremoniells stark
zurückgedrängt wurde.
Für den Familienzweig der in Mitteleuropa regierenden Mitglieder des Hauses Habs-
burg lässt sich die Verwendung von Tragsesseln oder ähnlichen Tragevorrichtungen
punktuell seit dem 14. Jahrhundert nachweisen. Der Grund für die Nutzung derartiger
Vehikel lag dabei stets im prekären Gesundheitszustand oder dem fortgeschrittenen Al-
ter der jeweiligen Fürsten. Eine Regelmäßigkeit beziehungsweise Systematik in der Nut-
zung ist dabei nicht zu erkennen, weshalb die Verwendung von Tragsesseln vorerst auch
ohne Folgen für den Hofstaat und das Hofzeremoniell blieb. Für die definitive Einfüh-
rung von Tragsesseln am Kaiserhof in den Jahren um 1620 waren schließlich Einflüsse
aus Italien maßgeblich, wo Tragsessel zu diesem Zeitpunkt schon längst etabliert waren;
in geringerem Umfang fanden in diesem Prozess auch Entwicklungen in Spanien, wo
ebenfalls Habsburger regierten, ein Echo. Während in früheren Zeiten am Kaiserhof das
Bild des im Tragsessel transportierten Fürsten keinerlei positive Assoziationen bei den
Zeitgenossen auslöste, sondern vielmehr den Eindruck des körperlichen Verfalls und
der Vergänglichkeit weltlicher Macht hinterließ, erhielten Tragsessel um 1620 durch die
Verwendung seitens der Kaiserinnen eine neue, positive Konnotation. Der erste reprä-
sentative Tragsessel, der sich am Kaiserhof nachweisen lässt, war ein Geschenk aus Flo-
renz für Kaiserin Anna, bei der – wie sich herausstellen sollte, fälschlicherweise – eine
Schwangerschaft vermutet wurde. Er wurde 1615 gemeinsam mit vier Genueser Sessel-
trägern nach Prag geschickt. Wenige Monate nach der Übergabe, als sich die letzten
Hoffnungen auf eine Schwangerschaft bereits verflüchtigt hatten, wurden die Genuesen
schließlich wieder in ihre Heimat zurückbeordert. Der kostbare Tragsessel aber verblieb
offenbar bei der Kaiserin. Das Beispiel von 1615 führt deutlich vor Augen, wo fortan ein
zentraler Einsatzbereich von Tragsesseln am Kaiserhof liegen sollte: War die Kaiserin
oder ein anderes weibliches Mitglied der Herrscherfamilie schwanger, so deklarierten sie
öffentlich ihren Zustand der guten Hoffnung durch die Verwendung eines Tragsessels.
Da damals allgemein die Meinung vorherrschte, dass heftige Stöße schlecht gefederter
Kutschen Fehlgeburten hervorrufen könnten, benutzten Fürstinnen bis zur Geburt stets
Tragsessel.
Das Jahr 1623 kann als Zeitpunkt angesehen werden, an dem sich Tragsessel endgültig
am Kaiserhof etablierten. Damals erhielt Kaiserin Eleonore von ihrem in Mantua regieren-
den Bruder einen Tragsessel zu Jagdzwecken zugesandt. Sechs italienische Sesselträger be-
gleiteten das wertvolle Vehikel, wobei unklar ist, ob sie aus Genau oder aus Neapel stamm-
ten. Alle sechs Männer erhielten nach ihrer Ankunft in Wien eine dauerhafte Anstellung
am Kaiserhof. Fortan befanden sich, abgesehen von einer kleinen zeitlichen Lücke, stets
mehrere Sesselträger im kaiserlichen Hofstaat.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Titel
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Untertitel
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Autor
- Mario Döberl
- Herausgeber
- Alejandro López Álvarez
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Abmessungen
- 17.5 x 24.7 cm
- Seiten
- 432
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918