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Résumé 381
Kurz darauf, nämlich 1626, wurden auch am Hof der habsburgischen Nebenlinie in
Tirol Tragsessel eingeführt. Diese Neuerung stand in Zusammenhang mit der Ankunft
von Claudia de’ Medici in Innsbruck, die damals Tragsessel aus ihrer Heimat Florenz mit-
brachte. Ungefähr zeitgleich, nämlich im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts, sind für den
österreichischen Herrschaftsbereich auch erstmals Tragsessel in Inventaren adeliger Fami-
lien dokumentiert. Es scheint sich hier demnach um eine Entwicklung zu handeln, welche
die gesamte Elite der Habsburgermonarchie etwa zur gleichen Zeit erfasste.
Bei mehreren Tragsesseln der spanischen Infantin Maria Anna, die 1631 als Königin
an den Wiener Hof gelangte und seit 1637 auch Kaiserin war, liegen detaillierte Informa-
tionen zur Entstehungs- und Nutzungsgeschichte sowie zu ihrer Gestaltung vor. Maria
Anna erhielt vom Papst zur Hochzeit ein gleichförmig gestaltetes Transportset zum Ge-
schenk, das aus einer Karosse samt Geschirren und Zugpferden, einer Sänfte samt Trag-
eseln und einem Tragsessel bestand. Derartige Garnituren entwickelten sich zu jener Zeit
zu beliebten Geschenken für Fürstinnen, aber auch für Thronfolger im Kindesalter. Mit
Kaiserin Maria Anna tauchte zudem ein neues Phänomen im Wiener Hofzeremoniell auf,
das vermutlich aus Spanien übernommen wurde. Anlässlich der Geburt ihres Sohnes Leo-
pold, des späteren Kaisers Leopold I., im Jahr 1640 kam nämlich am Kaiserhof mit einiger
Wahrscheinlichkeit zum ersten Mal ein Tragsessel bei einer Tauffeier zum Einsatz. Wenige
Wochen später wurde auch beim Hervorgang der Kindesmutter, das heißt bei ihrem ers-
ten öffentlichen Auftritt vierzig Tage nach der Geburt, erstmals ein Tragsessel verwendet.
Diese Neuerungen im Hofzeremoniell blieben jedoch vorerst nicht nachhaltig. Erst im
frühen 18. Jahrhundert sollten bei Taufen von Mitgliedern der Kaiserfamilie wieder Trag-
sessel zum Einsatz kommen. Bei Hervorgängen etablierte sich die Verwendung von Trag-
sesseln hingegen schon etwas früher. Sie standen dabei bereits ab 1667 mit einer gewissen
Regelmäßigkeit in Verwendung.
Während im Laufe des 17. Jahrhunderts der Gebrauch von Tragsesseln durch Habsbur-
gerinnen und adelige Damen immer üblicher wurde, stand ihre Verwendung sowohl sei-
tens männlicher Herrscher als auch adeliger Herren stets in Verbindung mit Krankheiten
und Gebrechlichkeit. Dies demonstrieren nicht nur zahlreiche Schriftstücke, sondern auch
mehrere Bildquellen, welche die damals gesundheitlich bereits schwer angeschlagenen Kai-
ser Ferdinand II. und Ferdinand III. bei den jeweiligen Krönungszeremonien ihrer Söhne
im Tragsessel zeigen. Die Entwicklung in Mitteleuropa unterschied sich damit deutlich
von jener im Süden Europas, etwa in italienischen Städten wie Genua oder Neapel, wo
es für gesunde Männer selbstverständlich war, sich im Tragsessel transportieren zu lassen,
oder in Spanien, wo so viele Männer zu Tragsesseln griffen, dass die Behörden die Verwen-
dung derselben gesetzlich limitierten. Gründe für diese augenfällige Differenz konnten
bisher noch nicht gefunden werden. Kaiser Leopold I. entließ nach seiner Thronbestei-
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Titel
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Untertitel
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Autor
- Mario Döberl
- Herausgeber
- Alejandro López Álvarez
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Abmessungen
- 17.5 x 24.7 cm
- Seiten
- 432
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918