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eines solchen offenen Tragsessels verwendete beispielsweise Karl V. in seinen letzten Le-
bensjahren, die er nach seiner Abdankung im Kloster Yuste verbrachte.
In seiner Konstruktionsweise weit anspruchsvoller war ein tragbarer Gichtsessel seines
Sohnes Philipp II. Von diesem technisch komplexen Vehikel, dessen Aussehen und Funk-
tionsweise in Form einer Zeichnung samt Beschreibung aus dem Jahr 1595 überliefert ist,
existiert heute eine moderne Nachbildung.
Wie einzelne Stiche sowie Inventareinträge des 17. Jahrhunderts belegen, standen of-
fene, mit Samt oder Damaststoffen tapezierte Tragsessel auch an den Höfen von Wien
und München im Einsatz. Sie dienten sowohl dem Transport kranker oder gehbehinderter
Fürsten und Fürstinnen als auch repräsentativen Zwecken. Ein besonders prunkvoller of-
fener Tragsessel hat sich in der Wiener Kaiserlichen Wagenburg erhalten. Er weist aufwen-
dige, in Gold gefasste Schnitzereien auf, ist mit rotem Samt bezogen sowie mit opulenten
Goldstickereien und -borten verziert. Anhand bislang unbeachtet gebliebener Schriftquel-
len und stilistischer Vergleiche lässt sich nunmehr belegen, dass dieser Tragsessel nicht,
wie bisher meist angenommen, um 1740 hergestellt wurde, sondern bereits um 1717/18
entstand. Er wurde offenbar erstmals für die Taufe von Erzherzogin Maria Anna und den
darauf folgenden feierlichen Hervorgang ihrer Mutter, Kaiserin Elisabeth Christine, ver-
wendet.
Wesentlich weiter verbreitet als offene waren aber geschlossene Tragsessel, die in viel-
fältigen Ausführungsarten existierten. So konnte etwa der Passagierkasten aus einem einfa-
chen Holzgestell und vorhangartigen textilen Seitenwänden bestehen oder aber er verfügte
über Wände aus Holzpaneelen, die bemalt, mit Leder, einfacher Wachsleinwand oder kost-
baren Textilien bespannt waren. Die meist an der Vorderwand sowie an den Seitenwänden
angebrachten Fensteröffnungen waren entweder unverglast oder mit mehr oder weniger
großen Scheiben versehen. In jedem Fall aber konnten die Fensteröffnungen mit Vorhän-
gen verschlossen werden. Vor allem anfangs erfolgte der Einstieg des Öfteren durch eine
seitlich angebrachte Öffnung, später aber meist durch eine an der Vorderseite des Kastens
positionierte Türe.
Der Variantenreichtum hinsichtlich Form, Ausstattung, Materialien und Farbe ist
durch zahlreiche Festbeschreibungen und Inventareinträge dokumentiert und wurde
durch lokale Vorlieben, Moden, gesetzliche Vorschriften sowie den angestrebten oder tat-
sächlichen sozialen Status der Besitzer und ihre finanziellen Möglichkeiten beeinflusst. Ein
bereits erwähnter überaus prachtvoller geschlossener Tragsessel des ausgehenden 17. Jahr-
hunderts befindet sich in den Beständen des Münchner Marstallmuseums. Er wurde um
1684/85 vom Pariser Sattlermeister Saillot für Kurfürstin Maria Antonia hergestellt. Seine
mit verglasten Fensteröffnungen versehenen Kastenwände wurden vollständig mit rotem
Samt kaschiert, auf den eine äußerst aufwendige Gold- und Silberstickerei sowie dekora-
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Titel
- Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren
- Untertitel
- Vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts
- Autor
- Mario Döberl
- Herausgeber
- Alejandro López Álvarez
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2020
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20966-9
- Abmessungen
- 17.5 x 24.7 cm
- Seiten
- 432
- Kategorien
- Geschichte Vor 1918