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Palimpsest über Anna O. 57
Transdifferenz müssen Identitätsnarrationen beziehungsweise -texte als interdependente,
miteinander verwobene Texte, das heißt als Intertexte gesehen werden.27
Als komplementäre Metapher für das Gedächtnis unterstellt die Metapher des Ge-
webes im Vergleich zum Palimpsest zweierlei: Sie betont die Wesentlichkeit der
Verknüpfung der unterschiedlichen Gedächtnisschichten, also einen Zusammen-
hang, der nur durch eine bestimmte Perspektive der Interpretation in die palimp-
sestische Struktur eingeführt werden kann und nicht von Beginn an in ihr angelegt
ist. Zugleich betont das »Gewebe« als Metapher eine grundsätzliche Gleichwertig-
keit des im Speicher des transdifferenten Gedächtnisses, des im Unbewussten Ver-
knüpften.
Auch in dieser Metaphorik sind die verwobenen »Identitätsnarrationen« nicht
von Beginn an einem bewussten Akteur zugeordnet: D.h., die »Narrationen« wer-
den nicht durch Zwecke im Sprechakt an einen Erzähler gebunden, der als Per-
son vor diesen Narrationen existierte oder von ihnen unabhängig wäre. Deshalb
erscheinen sie auch in einem von der Person abgetrennten Gedächtnisspeicher als
strukturell gleichrangige »Intertexte«. Diese können nur von einem Standpunkt
außerhalb beschrieben oder »unbewusst« erinnert werden.
Folgerichtig sehen auch die Studien über Hysterie in Anna O.s Vorliebe für das
»Gewebe« einen der Gründe ihrer Entpersönlichung. Schon Breuer brachte die
Hysterie Pappenheims in Zusammenhang mit ihrer Begeisterung für Handarbei-
ten – die übrigens später auch Freuds Tochter Anna teilte, deren Name vielleicht an
die erste Patientin der Psychoanalyse erinnern sollte.28 Handarbeiten würden ein
nicht bewusstes, zweckloses Tagträumen befördern, ein »Privattheater«,29 welches
sich in der Hysterie verselbstständige: »Wir wissen nichts Neues darüber zu sagen,
worin die disponierenden hypnoiden Zustände begründet sind. Sie entwickeln sich
oft, sollten wir meinen, aus dem auch bei Gesunden so häufigen ›Tagträumen‹, zu
dem z.B. die weiblichen Handarbeiten soviel Anlaß bieten.«30
Der Verlust des sprachlichen Fadens im Deutschen war Breuer zufolge das ers-
te Symptom von Anna O.s Aphasie: »Dann verlor ihr Sprechen alle Grammatik,
jede Syntax, die ganze Konjugation des Verbums, sie gebrauchte schließlich nur
falsch, meist aus einem schwachen Particip praeteriti gebildete Infinitive, keinen
Artikel.«31 Muss aber nicht der Therapeut, der sich mit einem solchen Sprachgewe-
be konfrontiert sieht, als Erzähler die fehlenden Zusammenhänge ergänzen und
sich dem hypnotischen Zustand unverbundener Augenblicke gerade entziehen?
Muss er nicht Leserichtungen einführen, das Miteinander der Fäden im Gewebe
in das Nacheinander eines Ariadne-Fadens auflösen? Wird er sich also nicht dem
Möglichkeitsraum des Palimpsests annähern, um mit der Patientin oder dem Pa-
tienten einen ganz bestimmten Erzählstrang zu (re-)konstruieren?
Freuds Unterscheidung zwischen »Hypnoid-« und »Abwehrhysterie« nimmt
diese Fragen auf. Ihr Ausgangspunkt ist die Ähnlichkeit von Hysterie und hypno-
27 | Lösch: Transdifferenz, S. 35.
28 | Vgl. Onfray: Anti Freud, S. 166.
29 | Breuer/Freud: Studien über Hysterie, S. 236.
30 | Ebd., S. 36. In ihren späteren sozialpädagogischen Äußerungen zur Frauenfrage trat
Pappenheim vehement für eine Förderung kunstgewerblichen Handarbeitens ein.
31 | Ebd., S. 45.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur