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Christoph
Leitgeb64
Auswirkung zu suchen, die sie sonst als bestes geistiges Geben dem eigenen Kinde
zugewandt hätten.«56
Diese Aneignungen verdeutlichen, wie sehr Pappenheim sich durch die Texte
zu Anna O. in Bezug auf ihre eigene Lebensgeschichte enteignet fühlte. Von die-
sem Zwiespalt von An- und Enteignung, von stillschweigender Überschreibung
und Fortschreibung lässt sich nicht einfach abstrahieren, wenn die Rede von den
im Palimpsest angelegten unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten sein soll.
Das verdeutlicht auch Freud in Bezug auf seine eigene Biografie in einem Brief
an Martha Bernays vom 2. April 1885, der die Palimpsestmetaphorik nur als Sub-
text andeutet. Er beschreibt darin, wie er Dokumente aus der Zeit der Entstehung
der Psychoanalyse auswählt, um auf eine Fiktion der eigenen Figur Rücksicht zu
nehmen, die später durch die Interpretation von Biografen aus der Überschreibung
dieser Dokumente entstehen wird. Wieder kombiniert er die Vorstellung palimp-
sestischen Überschreibens mit der von Archäologie, diesmal ironisch:
Aber das Zeug legt sich um einen herum wie der Flugsand um die Sphinx, bald wären nur
mehr meine Nasenlöcher aus dem vielen Papier herausgeragt; ich kann nicht reifen und nicht
sterben ohne die Sorge, wer mir in die alten Papiere kommt. Überdies alles, was hinter dem
großen Einschnitt in meinem Leben zu liegen fällt, hinter unserer Liebe und meiner Berufs-
wahl, ist lang tot und soll ihm ein ehrliches Begräbnis nicht vorenthalten sein. Die Biogra-
phen aber sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen
Ansichten über die ›Entwicklung des Helden‹ recht behalten, ich freue mich schon, wie die
sich irren werden.57
Nicht zufällig führt Rom als das andere Beispiel Freuds, welches Palimpsest und
Archäologie verbindet, unweigerlich die Assoziation imperialer Machtausübung
mit sich. Schon Freuds Metapher des Wunderblocks hatte in Hinblick auf die Hypo-
these vom permanenten Gedächtnis des Unbewussten diesen Unterton: Implizit
legte sie nämlich nahe, dass auf der Oberfläche die Schrift willkürlich gelöscht
werden könnte und das Palimpsest nach mehrmaligen Einschreibungen auf dem
weichen Untergrund unleserlich würde. Und so erzählt auch das Palimpsest um
Anna O. von der Willkür einer Auslöschung und Enteignung – bis zum Gedanken
an die Auslöschung von Pappenheim als Person.
Damit stellt sich noch einmal die Frage, wie sich das Palimpsest um Anna O.
insgesamt zu jener kulturwissenschaftlichen Emphase verhält, welche im Palim-
psest die Hybridität eines kollektiven Gedächtnisses betont. Arne Manzeschke
scheint eine mit der Konzeption von Transdifferenz verbundene, konkrete Tendenz
zu benennen, wenn er schreibt: »Der Gedanke, den Prozess der Kanonisierung
als ein invisible-hand-Phänomen zu modellieren […], ließe sich womöglich als eine
Topologie der Macht entwerfen, darf aber nicht dazu verführen, die Machtkonstel-
lationen zu anonymisieren.«58 Diese Tendenz zur Anonymisierung lässt sich noch
56 | Pappenheim, Bertha: Kinderlose Frauen [1930]. In: dies.: Literarische und publizisti-
sche Texte, S. 81-82, hier S. 82; s. auch http://gutenberg.spiegel.de/buch/zeitungsarti kel-
800/12 (zuletzt eingesehen am 3.5.2015).
57 | Freud, Sigmund: Brautbriefe. Briefe an Martha Bernays aus den Jahren 1882 bis 1886.
Ausgew., hg. u. m. e. Vorw. vers. v. Ernst L. Freud. Frankfurt a.M.: Fischer 1988, S. 92f.
58 | Manzeschke: Kanon Macht Transdifferenz, S. 101.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur