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Christoph
Leitgeb66
unterdrückte Transdifferenz aus dem palimpsestischen kulturellen Text wieder rekonstruiert,
reartikuliert und von Individuen oder (Unter-)Gruppen als Ausgangspunkt für eine Infrage-
stellung der Konsistenz und des Wahrheitsanspruchs der symbolischen Ordnung genutzt
werden kann.60
Kulturtheoretische Texte Pappenheims und Freuds beziehen Stellung zu Antise-
mitismus, Assimilation als Versuchung und einer Rückkehr zur Vaterreligion. Die-
se Themen überlagern palimpsestisch solche aus den Studien über Hysterie. Dabei
stellt sich freilich jedes Mal die Frage, ob die Metaphorik des »Palimpsests« der
Struktur solcher intertextuellen Beziehungen noch angemessen ist. Oder entsteht
hier das Palimpsest aus der beschreibenden Projektion eines Interpreten, der diese
Texte erst in einen einheitlichen Rahmen stellt?
Nach der missglückten Behandlung bei Breuer und ihrer Genesung begann
sich Pappenheim religiös und sozial zu engagieren.61 Die Auflehnung gegen den
Vater, die Vaterlosigkeit und der Vatermord sind dabei wiederkehrende Motive ihrer
Erzählungen. Die akute Phase ihrer Hysterie begann mit der Selbstaufopferung
in der Pflege des todkranken, strenggläubigen jüdischen Vaters. In ihrer ersten
Erzählung Sommerschnee (1888)62 behält noch die Auflehnung der Liebe gegen die
väterliche Autorität durch ein Wunder Recht. Später stellt Pappenheim immer wie-
der die Unmöglichkeit dar, sich vom väterlichen Erbe durch Überschreibung zu
distanzieren.
Erzeugt dieses wiederholende Überschreiben des Konflikts mit dem Vater die
Struktur des Palimpsests? Zumindest in einem Fall stellt sich diese Struktur ob-
jektiv als eine Vieldeutigkeit von unterschiedlichen Schichten von Schrift dar: In
Pappenheims Erzählung Ein Schwächling (1902, 1916) widersetzt sich der Protago-
nist Johann Gabriel den Zukunftsplänen und der Orthodoxie seines Vaters, des
Rabbis Reb Mordechai, um Maler zu werden. Der Not gehorchend, zeichnet er nach
der Flucht aus dem väterlichen Haus seiner Vermieterin fromme Stickmuster für
christliche Haussegen vor. Seine Entfremdung zeigt sich u.a. in einer Verwirrung
über in Auftrag gegebene Initialen. Wie in der alphabethischen Verschiebung der
Studien über Hysterie sind das die Initialen Pappenheims, aber auch die Breuers:
»Sechs Monogramme […] sind bestellt worden. P.S. oder J.P. oder gar ein weiches P.:
60 | Lösch: Transdifferenz, S. 30f.
61 | Innerhalb des Judentums wurde Pappenheim bekannt für ihren Versuch, »Traditionen
zu entschlacken«. So formuliert es das Gedenkzentrum in Neu-Isenburg für sie und spielt
dabei ihre für die »talking cure« geprägte Metapher vom »chimney-sweeping« an. Die gene-
sene Pappenheim übersetzt die Denkwürdigkeiten der Die Memoiren der Glückel von Hameln
(1910), das Maasse-Buch (1929) und die »Frauenbibel« Zennah u-Reenah (1930), beliebte
Hausbücher von Jüdinnen seit dem Spätmittelalter. Sie veröffentlicht auch die monatlich
erscheinenden Blätter des Jüdischen Frauenbundes, dessen programmatisches Konzept sie
im ersten Heft 1924 entwickelte. Schon 1899 übersetzte sie Mary Wollstonecrafts Eine Ver-
teidigung der Rechte der Frau.
62 | Pappenheim, Bertha: Sommerschnee [um 1888]. In: dies.: Literarische und publizisti-
sche Texte, S. 17-21; s. auch http://gutenberg.spiegel.de/buch/erzahlungen-798/1 (zuletzt
eingesehen am 3.5.2015).
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur