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Palimpsest über Anna O. 67
Jesus, jetzt weiß ich’s nimmer!«63 Später entpuppt sich diese Arbeit als ein Symbol
seines Wegs in Assimilation und Taufe. Die Auslöschung seiner Herkunft radi-
kalisiert sich u.a. in einem Gemälde über den »Triumphzug des Titus« nach dem
Fall Jerusalems, in dem der verstorbene Vater als Figur unter den dargestellten, ge-
knechteten Juden erscheint.64 Johann Gabriel begeht Selbstmord, als er den Verrat
an seinem Erbe als Verrat an sich selbst begreift.
Indem Pappenheim das Vater-Motiv auch in der Figur des Moses wiederholt,
greift sie einen Zusammenhang auf, dessen Überlieferung Freud selbst als palim-
psestisch beschreibt. Wie Freud thematisiert Pappenheim in ihrem Essay Die jüdi-
sche Frau (1934) mit dem Motiv der väterlichen Autorität das Festhalten an der jüdi-
schen Tradition. Freud hatte am Gesetzgeber der jüdischen Religion gerade seine
ägyptische Herkunft betont: »Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als
den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin
unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volke angehört.«65 Außerdem
projiziert er das individualpsychologische Paradigma des Ödipus-Komplexes im
Mann Moses auf das Feld der Kultur. Für Freud ist der Glaube an Mose geprägt
durch ein Schuldbewusstsein gegenüber einer historisch verdrängten Vaterfigur,66
Auswirkung des Ödipus-Komplexes auf dem Feld der Kultur. Auf diesem Schuld-
bewusstsein beruhe auch die christliche Erwartung eines Erlösers.67
Nach Jan Assmann erzeugt die Entmachtung der alten polytheistischen Götter
schon an sich das ›Trauma‹ des Monotheismus, er hält Freuds analytischen Bezug
auf Ödipus in der Interpretation des Moses also für entbehrlich.68 »Das Trauma
des Monotheismus gründet nicht in der ödipalen Tiefenstruktur der menschlichen
Seele, sondern in der Mosaischen Unterscheidung zwischen wahr und falsch.«69
Freud beruft sich an dieser Stelle in seiner Interpretation ausdrücklich auf die Spur
der Gewalt im Palimpsest:
63 | Pappenheim, Bertha: Ein Schwächling [1902 und 1916]. In: dies.: Literarische und pu-
blizistische Texte, S. 183-214, hier S. 197; s. auch http://gutenberg.spiegel.de/buch/erzah
lungen-798/2 (zuletzt eingesehen am 3.5.2015).
64 | Ebd., S. 210f; v.a. in der Gestaltung von Wilhelm von Kaulbach war das Motiv ein be-
kanntes, antisemitisches Sujet.
65 | Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: ders.: Studien-
ausgabe IX, Frankfurt a.M.: Fischer 1974, S. 455-581, hier S. 459; s. auch http://gutenberg.
spiegel.de/buch/der-mann-moses-und-die-monotheistische-religion-914/1 (zuletzt einge-
sehen am 3.5.2015).
66 | Freud: Der Mann Moses, S. 573: »Wir verstehen, daß der Primitive einen Gott braucht
als Weltschöpfer, Stammesoberhaupt, persönlichen Fürsorger. Dieser Gott hat seine Stel-
le hinter den verstorbenen Vätern, von denen die Tradition noch etwas zu sagen weiß. Der
Mensch späterer Zeiten, unserer Zeit, benimmt sich in der gleichen Weise.«
67 | Vgl. Assmann, Jan: Moses der Ägypter: Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt
a.M.: Fischer 2004.
68 | Vgl. Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis, S. 76.
69 | Ebd., S. 80. Derrida argumentierte in seinem Aufsatz mit dem auch von Assmann zitier-
ten Warburton und im Hinblick auf die Traumdeutung noch umgekehrt. Er nahm die kultur-
wissenschaftlich-ägyptologische Oberfläche als Folie für die psychoanalytische Deutung:
Freuds Analyse des Unbewussten in der Traumsprache beziehe sich implizit auf die Zeichen-
struktur der Hieroglyphen. Vgl. Derrida: Freud, S. 318f.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur