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Christoph
Leitgeb70
vor allem ob sie Beide imstande sein würden, die Vergangenheit zu vergessen, die häßliche,
entsetzliche Vergangenheit.78
Wenn der Szene auf der Couch also eine Erinnerung Pappenheims an die psycho-
analytische Situation zugrunde liegt, so ist sie fast vollständig überschrieben. Und
doch äußert sich in der Erzählung in der geschilderten Szene eine Kritik an einem
Persönlichkeitsideal, das blind für die jeweils persönliche Vergangenheit bleibt. In
ihrem politischen Leben forderte Pappenheim Sensibilität für solche Überschrei-
bungen und eine Haltung, die trotz ihres Engagements für eine ›authentische‹
Religiosität zugleich dem radikalen Eingriff in palimpsestische Gebilde gegenüber
skeptisch bleibt.79
Homi Bhabha beschreibt diesen Einsatz der Person im Kampf um die Erinne-
rung, der verhindert, die eigene Wirklichkeit in der gegenwärtigen Kultur nur als
eine beliebige aus vielen möglichen zu begreifen. Seine Beschreibung passt auch
auf die politische Situation Pappenheims in den 1930er Jahren. Anders als Freud
visiert er nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart als Ort des Traumas
an und damit als Bezugspunkt einer Interpretation des Palimpsests. Anders auch
als die Palimpsest-Metapher im Konzept der Transdifferenz unterstellt er dabei als
Utopie nicht die im Palimpsest aufbewahrten Möglichkeiten, sondern einen integ-
rativen Text, der aus dem Palimpsest neu konstruiert wird: »Erinnerung ist nie ein
stiller Akt der Introspektion oder Retrospektion. Es ist ein schmerzvolles Wieder-
Eingliedern (re-membering), ein Zusammenfügen der zerstückelten (dismembe-
red) Vergangenheit, um das Trauma der Gegenwart verstehen zu können.«80
liTeraTur
Allolio-Näcke, Lars/Kalscheuer, Britta/Manzeschke, Arne (Hg.): Differenzen an-
ders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt
a.M.: Campus 2005.
Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis. München: C.H. Beck 2000.
Assmann, Jan: Moses der Ägypter: Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt
a.M.: Fischer 2004.
Bernstein, Richard J.: Freud und das Vermächtnis des Moses. Wien: Philo 2003.
78 | Ebd., S. 239.
79 | Pappenheim selbst leitet daraus einen politischen Vorbehalt gegen eine allzu große
theoretische Abstraktion ab. Als Kritik an der »Hypertrophie der Organisation« äußert sie
diesen Vorbehalt feministisch und konkret in ihrem Engagement für jüdische Sozialarbeit
in Frankfurt während der Zeit knapp vor dem Zweiten Weltkrieg: »Es ist interessant – trotz
der nur skizzenhaften Darstellung – hier das Kuriosum zu verzeichnen, wie innerhalb dieser
50 Jahre aus dem männlichen Widerstand gegen eine Organisation der sozialen Arbeit eine
Hypertrophie der Organisation geworden ist – bis zur fixen Idee einer alles umfassenden,
jede persönliche soziale Leistung tötende ›Dachorganisation‹.« Pappenheim: Die jüdische
Frau, S. 92.
80 | Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Übers. v. Michael Schiffmann und Jürgen
Freudl. Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 93.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur