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Ruth
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nichts zu sagen haben, nur eine einzige Handhabe bleibt, mit der sie Kontrolle
über sich ausüben können, und das ist der Selbstmord.13 Dass es sich um Selbst-
mord handelt, wird nur vom Arzt ausgesprochen; die Erzählerin, eine Freundin
und Schriftstellergefährtin Gertruds, ist unfähig, diesen Begriff zu benutzen.
Während der begrenzte Handlungsraum der Frau in ihrer Familie sicherlich
katastrophale Konsequenzen hat, und ein kaltes Licht auf den Professorenhaushalt
wirft, ist das aber keineswegs die einzige Katastrophe.
Was zunächst schockiert, ist die Tatsache, dass Gertrud Töchter hat, die mit
ihrer Mutter so verwandt sind wie »ein paar Paradiesvögel mit einer Löwin« (DtL,
S.
15). Wie kommt die Frau dazu, was soll der so ungünstige Vergleich? Eine weitere
Katastrophe geht von Gertruds Mann und ihrem Vater aus. Die geballte Weisheit,
die sich in den beiden versammelt, hilft überhaupt nicht, als die weibliche Figur
plötzlich aus ihrem Leben verschwindet. Der Ehemann ist hilflos und benimmt
sich wie ein Kleinkind. Der Mann der Wissenschaft scheint zu glauben, dass die
Tote auf sein Verlangen wieder lebendig werden müsse – genauso wie er vorher
von ihr verlangt hat, sich nicht in seine wissenschaftlichen Tischgespräche einzu-
mischen, und sie ihm gehorcht hat. »Trudel! […] … nicht so scherzen … Aufwachen
… Aufstehen!« (DtL, S.
10). Als Ornithologe kann er mit toten Vögeln ohne Weiteres
umgehen, aber sobald er in einer existenziellen Situation steht, zeigt sich, dass
sich sein Wissen nur auf Vögel beschränkt und sein Professorengehabe allein auf
Tradition basiert. Die Schwäche des Ehemannes steht nicht weniger im krassen
Gegensatz zum Ideal des professoralen Haushalts im Staate als der Akt der Frau
zu den Dogmen der damaligen katholischen Kirche. Beiden ist gemeinsam, dass
sie autoritätstragende Dogmen unterminieren, aber wie das für den Professor letzt-
endlich ausgeht, wird uns nicht erzählt.
Eine weitere katastrophale Verletzung von als bekannt vorausgesetzten Hier-
archien liegt darin, dass das private Gebahren der beiden Wissenschaftler, dem
Ehemann und dem Vater, welche die Jurisprudenz (der Vater) respektive die Or-
nithologie vertreten (Ehemann), so gar nicht den Normen der Wissenschaft ent-
spricht. Während diese beiden Wissenschaften nach der Wahrheit suchen, können
die Vertreter derselben der Wahrheit über Gertrud nicht ins Gesicht sehen; ihr Tod
ist nur durch die Lüge auszuhalten, dass ein furchtbarer Zufall im Spiel gewesen
sein muss. Noch dazu wird diese Version davon, wie Gertrud zu Tode gekommen
ist, den beiden von einer Frau nahegelegt und von Frauen (Mutter und Töchter) wie
auch Wissenschaftlern als Wahrheit betrachtet.
Die Frau, die diese annehmbare Wahrheit anbietet, nennt sich Gertruds Freun-
din und vermittelt dem Leser oder der Leserin deren männliche Züge (vgl. DtL,
S.
15), also doch wohl das mit der Wahrheit Verbundene – und keine Lüge! Die Lüge
mag für Gertruds Mutter und die streberhafte ältere Tochter ein Trost sein, aber
letzten Endes trägt sie doch dazu bei, Gertruds Tod umso sinnloser zu machen.
Niemand hat etwas erfahren, niemand wird sein Leben umstellen, keiner kann
irgendeinen Fortschritt machen. Aber vielleicht war das ja von Anfang an klar, und
so war der Selbstmord eben sinnlos, sogar bevor die Lüge über den unglücklichen
Zufall vorgebracht wurde. Gleichzeitig wird der Arzt, dem die Wahrheit lieber ge-
wesen wäre, teilweise von der Erzählerin diskreditiert: Ihm fehle es an Barmherzig-
13 | Vgl. Tanzer, Ulrike: Frauenbilder im Werk Marie von Ebner-Eschenbachs. Stuttgart:
Heinz 1997, S. 10.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur