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Von Unkraut und Palimpsesten 81
weitgehend ausgeschlossen. Zunächst sieht es so aus, als ob das nur eine Frage
der Genderzugehörigkeit sei, dieser binären Zuordnung stellen sich schreibende
Frauen allerdings entgegen.21
Aus Franzensbad kann als eine Satire auf die männliche Dominanz in allem,
was mit Medizin und Literatur zu tun hat, gelesen werden, egal ob es sich um die
Wahl des richtigen Kurortes, die Lektüre des geeigneten Buches, das Finden eines
Verlegers, das Studium der Literatur oder das Schreiben von Literaturgeschichten
handelt. Die Sache wird umso prickelnder, als die Schreiberin sich in ihren Episteln
auch an die »liebe Leserin« wendet,22 gleichzeitig allerdings ihr weiser und dabei
etwas lächerlicher Arzt als Leser angesprochen wird.
Es wird sehr schnell klar, dass die Erzählerin in den böhmischen Badeort
geschickt wurde, ohne dass sie behandelnswerte Symptome hätte oder gar eine
Diagnose vorläge. Die allermeisten Frauen verbringen dort ihre Zeit mit Brunnen-
gängen und Bädern, mit Nichtstun, mit dem Beobachten anderer Damen und mit
Klatsch über dieselben. Anders als etwa bei Rahel Varnhagen von Ense, die im
Sommer 1795 in Karlsbad zum ersten Mal mit Goethe zusammentraf, gab es in den
1850er Jahren in Franzensbad keine Freundinnen und Freunde, mit denen man
sich eine Kunstwelt erschaffen konnte.
Das heutige Franzensbad wirbt immer noch mit guter Luft, Ruhe und v.a. na-
türlich seinen Heilquellen und dem Heilschlamm. Die Bilder in der Galerie der
tschechischen Webseite geben einen Eindruck davon, wie förmlich dieser Ort ein-
mal gewirkt haben muss, als der Tagesablauf von den mehrfachen Gängen zu den
Heilquellen und dem täglichen Schlammbad bestimmt war.23
Die Langeweile vor 150 Jahren war umso schlimmer, als es weder Unterhalt-
sames noch Erbauliches gab. Im zweiten Brief macht sich die Erzählerin über den
totalen Mangel an Lektüre lustig. Die einzigen Krümel, die man auf diesem Ge-
biet sammeln kann, stammen von den mit Zitaten dekorierten Badewannen, so
dass man also einen zweiwöchigen Kurs im Lesen von Badewannenzitaten ma-
chen kann. Das ist eine Invektive gegen den Mangel an Gelegenheiten für Frauen,
ernsthaft zu lernen, aber auch eine Kritik an der Idee, Frauen unter dem Vorwand,
es täte ihrer Gesundheit gut, in einen Kurort zu schicken, statt ihnen Bildung zu
ermöglichen, die sie innerlich und äußerlich beschäftigen, ihnen Wahlmöglich-
keiten geben und einen solchen (Zwangs-)Aufenthalt überflüssig machen würde.
Allerdings erlaubt dieser Zeitüberfluss der Erzählerin auch, sich vorzustellen,
dass sie jemand anderer wäre – jemand, der sie auch nicht im Traum sein könnte –,
vielleicht die Frau von Gervinus oder Julian Schmidt oder sogar »König Gervinus«
selbst! (vgl. AF, S. 34-36). Sie würde dann nicht nur schreiben können, sondern
hätte sogar eine Machtposition – zumindest wenn »Zeus Gervinus« nicht so da-
rauf versessen wäre, die österreichische Literatur zu ignorieren (vgl. AF, S. 35-37).
Diese Erzählerin hat nicht nur das falsche Geschlecht, sondern auch die falsche
Nationalität und weist mit ihren Briefen somit auf ein viel weiteres Feld hin als
nur auf die Frauen im Kurort. Allerdings wird auch klar, dass der Zeitüberfluss,
21 | Vgl. Frindte, Julia/Westphal, Siegfried: Handlungsspielräume für Frauen um 1800. In:
dies. (Hg.): Handlungsspielräume von Frauen um 1800. Heidelberg: Winter 2005, S. 3-16;
Whittle, Ruth: Gender, Canon and Literary History. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 170f.
22 | Vgl. etwa AF, S. 27.
23 | Vgl. www.franzensbad.cz/de/ (zuletzt eingesehen am 26.5.2015).
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur