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Ruth
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der hier kritisiert wird, zu richtig immoderaten Vorstellungen führen könnte, die,
wenn sie Schule machten, den Frauen suggerieren könnten, dass sie – wenigstens
gedanklich und eventuell auch schriftlich – eine für Männer durchaus bedrohliche
Stellung zu erreichen vermögen.
Zwanzig Jahre später beklagt sich Ebner-Eschenbach in ihrem Brief an Emerich
du Mont vom 20. Dezember 1879 bitterlich darüber, dass nur deutschsprachige
Frauen keine ›Klassiker‹ werden können.24 Im Gegensatz dazu haben Britinnen
und Französinnen einen ganz anderen Stand. In diesem Brief – wie auch schon
in einem früheren (an Hieronymus Lorm vom 15. Juni 1878)25 – kritisiert sie, dass
es denen, die Buchbesprechungen schreiben und Bücher verlegen, immer darum
geht, wer der Autor sei, und nicht um das Werk selbst. Man kann sich fragen, ob
Ebner-Eschenbach eine Literaturgeschichte mit einem genderorientierten Ansatz
gewollt hätte, so wie Klüger26 dies fordert, oder ob sie es sich hätte vorstellen kön-
nen, dass vorhandene Literaturgeschichten um Frauen erweitert würden. Jeden-
falls betreibt sie als ältere Frau mit ihrer Selbstdarstellung in der Pose des Kaisers
ihre eigene Kanonisierung, und verstärkt dies noch, indem sie um die Jahrhun-
dertwende ihre autobiografischen Dokumente umschreibt, bevor sie sie Bettelheim
gibt, der die Schriftstellerin dann memorialisiert.27 Sie stellt sich damit der Fremd-
positionierung durch ultramontane Zeitschriften entgegen, die sie aus dem natio-
nalen Diskurs darüber, wie ein gesundes, katholisches Österreich beziehungswei-
se Deutschland (nach Bismarcks Kulturkampf) aussehen sollte, ausschließen will,
und genau dieser Widerspurch scheint mir eine Begründung dafür zu sein, dass
Protagonistinnen wie Gertrud (oder Resel) nicht lebend positioniert werden kön-
nen, sondern sterben müssen. Die Einebnung des Erinnerungspalimsests durch
das Wegschaben der Knoten zwischen den Erinnerungsebenen und deren Über-
schreibung durch aktive Selbstpositionierung sind nur bedingt erfolgreich, und
ganz sicher nicht langfristig.
Ich möchte das Bild der »Katastrophenlandschaft« und des mit Unkraut übersäten
Gartens jetzt noch kurz auf zwei Geschichten einer weiteren Autorin übertragen,
um den stark hervortretenden Verweischarakter der fiktionalen Werke nicht nur
dieser beiden Autorinnen zu beleuchten. Und zwar gehe ich auf die beiden Kurz-
geschichten Die Lösung (1905) und Die Verratene (1911) von Grete Meisel-Heß ein.28
Diese ist heute, wenn überhaupt, eher für ihr nichtfiktionales Werk Die sexuelle
Krise (1909) bekannt, in der sie die sexuelle Gleichstellung von Mann und Frau
proklamiert, aber auch darauf eingeht, dass Frauen die Mittel zur finanziellen Un-
24 | Vgl. Ebner-Eschenbach, Marie von: Brief an Freiherrn Emerich du Mont v. 20.12.1879,
zit.n. Tanzer: Frauenbilder, S. 228-230.
25 | Vgl. Ebner-Eschenbach, Marie von: Brief(konzept) an Hieronymus Lorm v. 15.6.1878,
zit.n. Tanzer: Frauenbilder, S. 227-228.
26 | Vgl. Klüger, Ruth: Frauen lesen anders. München: dtv 1996.
27 | Vgl. Worley: The Making and Unmaking of an Austrian Icon, S. 25.
28 | Meisel-Heß, Grete: Die Lösung [1905]. In: Sudhoff (Hg.): Holunderblüten, S. 108-113.
Im Folgenden: DL. Dies.: Die Verratene [1911]. In: Sudhoff (Hg.): Holunderblüten, S. 114-
119. Im Folgenden: DV.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur