Seite - 108 - in Transdifferenz und Transkulturalität - Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
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Endre
Hárs108
Das »Geistergesicht« (Bd. III, S. 39) Timeas qualifiziert sie für etwas, das sie über
ihre Rolle als Wunsch- und/oder Hassobjekt aller und wiederum über sich selbst
erhebt (und zusätzlich in den beiden Szenen auch zum Medium erzählerischer
Prolepsis macht). Dieses Mehr begreift man am besten, wenn man ihre Persön-
lichkeitsstruktur betrachtet, in der – als in einer Art Indifferenz gegenüber aller
Differenz – entgegengesetzte Alternativen vorliegen. Timar gegenüber, der den
Mangel an Glück durch Gründung einer zweiten Identität an der Seite Noëmis
behebt – und sich dadurch eben auch seine Privatkrise einhandelt –, erhält Timea
den Widerspruch konsequent und umstandslos – sozusagen in und durch sich
selbst – aufrecht, indem sie ihre ehefrauliche Treue in Form von radikaler sexueller
Abstinenz auslebt: Sie liebt ihren Mann als Wohltäter und guten Menschen, aber
nur als das – was sich auch in ihrer körperlichen Beziehung radikal niederschlägt.
Über Timeas körperlose Hingebung – auch »Grausamkeit der Engel« (Bd. V, S.
42)
genannt – schaut man nur hinweg, weil die Handlung in Gestalt Katschukas, der
zum Gegenstand ihrer wahren Liebe wird und den sie nach Timars Verschwinden
zum Ehemann nimmt, eine Lösung verspricht, die sich übrigens nie bewahrhei-
tet: Timea muss nämlich, obgleich hierüber nur epilogisch berichtet wird (Bd. V,
S. 214-215), ihre Ehe mit Katschuka im Bewusstsein dessen führen, dass ihr erster
Mann am Leben geblieben ist. Lag also fehlende Liebe der ersten Ehe im Wege, so
verhindert – aus der Sicht Timeas – die verletzte Tugend (der Skandal der unver-
schuldeten Bigamie) das Liebesglück in der zweiten.
In Analogie dazu verbindet sich in Timeas Charakter völlige Untergebenheit
mit der Souveränität einer frei handelnden Frau. Ihre scheinbare Weltfremdheit
und Bedürfnislosigkeit werden kontrastiert durch ihre in Abwesenheit ihres Man-
nes vorgelegte natürliche Geschicklichkeit in der Geschäftsführung – denn aus
dem Schatz wird im Roman modernes Kapital –, und ihre Willenslosigkeit wird
aufgehoben durch die verkehrte Rolle, die sie spielt, wenn sie als junge Witwe sozu-
sagen um die Hand des lang ersehnten Major Katschuka anhält:
»Ah, Sie haben lang auf sich warten lassen!« sagte sie, ihm die Hand reichend.
Der Major drückte einen ehrerbietigen Kuß auf diese Hand.
»Im Gegentheil, ich befürchte, daß ich der erste Gast bin.«
»O keineswegs. Alle, die ich eingeladen, sind schon da.«
»Wo?« fragte der Major verwundert. […]
[A]n der Tafel aber saß Niemand.
Kein Mensch. (Bd. V, S. 163-164)
So gesehen besteht die letzte Ungerechtigkeit, die der Erzähler – stellvertretend für
Timar, der im namenlosen Glück verschwindet und zum Urgroßvater des von ihm
stammenden Menschenschlags von glücklichen Inselbewohnerinnen und -bewoh-
nern wird (Bd. V, S.
224) – gegenüber Timea begeht, darin, dass er sie im Unglück
belässt und ihr den frühen Tod einräumt. Was auf diese Art und Weise diegetisch
›schiefgeht‹ – denn Timea verdient nicht, was ihr widerfährt –, wird allerdings
symbolisch wieder aufgehoben. Gerade dieses Schicksal macht nämlich aus Timea
eine Figur, deren Qualitäten in der Differenz liegen – in einander ausschließen-
den Haltungen und Lebensprojekten, denen die Hauptfigur nicht mehr und der
Leser oder die Leserin nur dann zu folgen vermag, wenn er oder sie zeitweilig den
Handlungszusammenhang des Romans suspendiert. Denn erst wenn die lebendi-
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur