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Ernst
Seibert144
zeichnung aller Handlungselemente, woraus sich vermutlich auch seine Beliebt-
heit sowohl bei den vermittelnden Eltern als auch bei den Kindern selbst erklärt.
Ginzkeys Geschichte vom kleinen Fritz, des eigentlichen Protagonisten in
Hatschi Bratschis Luftballon, setzt genau dort ein, wo Heinrich Hoffmanns letzte
Geschichte, die vom fliegenden Robert, im Struwwelpeter endet: mit einem Kind,
das trotz des elterlichen Verbots von Vater und Mutter wegläuft. Bei vergleichender
Lektüre stellt man nicht nur Reim- und Rhythmus-, sondern auch überraschende
Wortparallelen fest: Hoffmanns Robert »aber dachte: Nein!«, und von Ginzkeys
Fritz heißt es: »Er aber lief zur Tür hinaus.«. Hoffmanns Robert »patschet […] mit
dem Regenschirm umher«, von Ginzkeys Fritz heißt es, »springt er jetzt im Gras
umher« (Hervorh., E. S.). Die eigentliche Parallele zwischen der Schluss-Szene bei
Hoffmann und der Einleitungsszene bei Ginzkey ist aber das In-die-Luft-Fliegen,
bei Hoffmann mit dem Regenschirm, bei Ginzkey mit dem Ballon. Was bei Hoff-
mann im Ungewissen endet, wird bei Ginzkey zur angstbesetzten Begegnung in
der Luft, die allerdings mit der ersten Handlungssequenz gleich einmal mit der
Vernichtung des Ungeheuren, also mit einer Heldentat, beginnt. Der im Titel der
Geschichte gemeinte »Zauberer aus dem Morgenland« (ehem. »Türkenland«) ist
also gar nicht Hauptfigur, vielmehr sein Ballon das Hauptrequisit; das Heldentum
des eigentlichen Protagonisten scheint dadurch etwas relativiert. Auch diese kleine
Ungewissheit in der Frage nach dem eigentlichen Kern der Handlung mag zum
Erfolg des Büchleins beigetragen haben.
In dieser eigenartigen Konstellation ist der »Zauberer aus dem Morgenland«,
dessen Name auch ein wenig an die Begleitfigur Karl Mays im Orient erinnert
(Hatschi Halef Omar), zu einer Urfigur der österreichischen populären Kinder-
literatur als Inkarnation des Fremden geworden, gleichzeitig zu einer Art Kinder-
schreck, der im Wien um die Jahrhundertwende gewiss auch mit orientalischer
Herkunft assoziiert wurde. Man kann vielleicht sogar einen Nachklang orientali-
scher Märchen darin sehen, aber man sollte auch und gerade bei der Interpretation
von Kinderbüchern nicht nur von einzelnen Bildern ausgehen, sondern sich den
ganzen Text vergegenwärtigen: Am Schluss der Geschichte ist sehr ausführlich
davon die Rede, dass Fritz am vorläufigen Ziel seiner Ballonreise im Morgenland
auf gefangene Kinder stößt: »Gefang’ne Kinder sind’s, die schrei’n./Der Hatschi
Bratschi schloß sie ein./Er trug sie her im Luftballon;/Da schmachten sie so lange
schon!«
Mit dieser Wendung des Geschehens wird die kindliche Leserschaft – was
Ginzkey ähnlich wie die Dehmels ja wohl im Sinn hatte – sehr weit von Hein-
rich Hoffmann entfernt; solches Ausfabulieren führt über die Momentaufnahmen
eines Hoffmann weit hinaus. Ginzkey hat aber auch hier nicht einfach vor sich hin
fabuliert, sondern er bewegt sich mit dieser Wendung am Schluss seiner Reise-
Abenteuererzählung (die auch an Selma Lagerlöfs Nils Holgerssen aus dem Jahr
1906/07 erinnert) plötzlich auf einer ganz anderen Motivebene, die sich mit der
griechischen Mythologie zusammenführen lässt. Das Motiv der Befreiung von ge-
fangenen Kindern findet sich in den Erzählungen um den griechischen Helden
Theseus und wird als sein größtes und abenteuerlichstes Unternehmen bezeich-
net: Minos, der König von Kreta, hat durch die Schuld der Athener seinen Sohn
Androgeos verloren. Zur Sühne dafür hat er den Athenern einen schweren Tribut
auferlegt. Alljährlich müssen sie sieben Knaben und sieben Mädchen nach Kre-
ta schicken, die dem Minotauros zum Fraße vorgeworfen werden. Dem Helden
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur