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Ernst
Seibert146
2.6 Franz Molnar (1878–1952) –
Die Jungen der Paulstraße (1907; dt. 1910)
Ein weiterer Autor, der als Beispiel für die peripheren Genese der österreichischen
KJ-Literatur hohen Anteil hat, ist der gegenüber Ginzkey um sieben Jahre jüngere
Franz Molnar/Ferenc Molnár, der als Ferenc Neumann in Budapest geboren wurde.
Sein eindeutig jugendadressierter beziehungsweise mehrfachadressierter Roman
Die Jungen der Paulstraße (A Pál utcai fiúk, 1907) erschien drei Jahre nach Ginzkeys
Hatschi Bratschi. Die zeitliche Nähe ist deshalb betont, weil auch hier von einem
Kinderkollektiv die Rede ist. Zur anhaltenden Rezeption von Molnars Roman ist
zu erwähnen, dass er 1978 in der Reihe »wiedergefunden« des Styria-Verlags mit
Nachworten von György Sebestyén und Hans Weigel neu aufgelegt wurde, womit
ihm als Jugendliteratur im Fokus von ›Literaturpäpsten‹ eine besondere Ausnah-
mestellung zukommt. Allein durch diese Neuauflage ist der Klassikerstatus dieses
Werkes erkennbar, durch die Wahl des Verlages allerdings auch die gänzliche Ab-
koppelung der neueren kj-literarischen Szene gegenüber ihren Klassikern. Eine
weitere Auflage ist 2005 im Ueberreuter Verlag in Wien erschienen. Dass die Re-
zeption auch und gerade von KJ-Buch-Klassikern heute zu völlig verfehlten Be-
wertungen führen kann, zeigt eine Rezension zu dieser Neuerscheinung, die sich
dazu hinreißen lässt, sie als Kriegspropaganda einzustufen. Darin offenbart sich
ein völliges Missverständnis des Romans, der im Grunde das Gegenteil bewirken
möchte, nämlich den Zerfall der Monarchie erkennbar zu machen, indem die Sol-
daten dazu angehalten werden, ebenso verblendet in einen Krieg zu ziehen, wie die
Jungen der Paulstraße nicht sehen, dass über die Territorien, um die sie kämpfen,
längst von höheren Machthabern entschieden wurde.
Molnar gestaltet in seinem Schüler-Roman den Kampf zweier rivalisierender
Gruppen um eine unbenutzte Holzlagerstätte am Stadtrand von Budapest, die ihr
Spielplatz ist. Der Ort der Handlung ist der Ort von Molnars Kindheit und liegt in
seiner Heimatstadt. Zwei Gruppen von Jungen im Pubertäts- oder Vorpubertäts-
alter mit sehr unterschiedlichen Charakteren üben sich auf diesem Territorium
im militärischen Spiel. Die vordergründige Ebene der Handlung, in der die Jun-
gen von Vaterland reden und ihren Spielplatz meinen, verweist damit sehr deutlich
auf zeitgenössische nationale, politische Spannungen und damit auf mindestens
eine allegorische Lesart des Textes. Im Handlungskonzept ist aber von Anfang an
auch noch eine dritte Ebene eröffnet: Der kindlichen Illusion, dass immer alles so
bleibe, wie es ist, steht die Macht oder die Autorität des Faktischen gegenüber, der
zufolge sich jedes Sosein der Kindheit nicht zuletzt durch materielle Interessen der
Erwachsenenwelt (geschäftlich-spekulative Interessen an dem Areal, der den Kin-
dern als Spielplatz dient) radikal verändert. Durch den Vaterlandsbezug ist auch
noch eine vierte Realitätsebene vorgegeben, die zwar außerhalb der Perspektive der
kindlichen Protagonistinnen und Protagonisten liegt, die jedoch in der Sicht des
auktorialen Erzählers durchaus angesprochen ist: die Realität der österreichisch-
ungarischen Monarchie und ihres Militarismus am Beginn des 20. Jahrhunderts.
Der Kampf der Kinder- beziehungsweise Jugendgruppen ist im Grunde ein Kampf
gegen die Entfremdung durch die Erwachsenenwelt und dergestalt eine in den Plu-
ral gesetzte Form einer Ästhetik des Widerstands. Ihre Legitimation ist die morali-
sche Autorität von Kindheit und Jugend, die aber letztendlich vor der Wirklichkeit
der nationalen Spannungen kapitulieren muss.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur