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Konstruktionen von ethnischer Zugehörigkeit und Loyalität 169
Das folgende Beispiel lässt v.a. zum staatlichen Selbstverständnis und zur vor-
herrschenden Meinung über Identitäten interessante Schlüsse zu. Gustav Sieber,
der seine Memoiren anonym verfasste, brachte als k.u.k. Offizier 1913 seine Sicht
auf eine solche Situation wie folgt zum Ausdruck:
[…] da hatte ihn sein damaliger Hauptmann ernst und streng angesehen und ihn, ohne ihm
die Hand zu reichen, nach einigen kurzen Worten gefragt:
»Was sind Sie für ein Landsmann?«
»Deutscher!« hatte er geantwortet.
Er wollte nicht seine Nationalität betonen, die ihn als Offizier und Offizierskind nur soweit
interessierte, als sie seine Muttersprache betraf; er wollte nur sagen, daß er ein Deutscher
sei, da es in der Armee viele Offiziere gab, die Slawen waren, trotzdem sie deutsche Namen
trugen, und umgekehrt.
Da hatte ihn sein Hauptmann barsch angefahren:
»Ich möchte Ihnen nur etwas sagen, daß Sie nicht an anderer Stelle Anstoß erregen! Sie
können Ungar, Tscheche, Pole sein, was Sie wollen. Nur Deutscher nicht; das sind die Leute
dort drüben in Preußen. Wenn Sie deutscher Muttersprache sind, so sagen Sie: Ich bin ein
Oesterreicher.
Verstanden?«40
Derartige Aussagen finden sich häufiger, obwohl es gleichzeitig als unschicklich
galt, die ethnische Zugehörigkeit in der Öffentlichkeit und im Kameradenkreis
hervorzuheben. Der Offizier Josef Leb schrieb: »Ich erinnere mich, dass einmal
in unserer Offiziersmesse ein Leutnant sich als Tscheche bekannt hat, der Oberst-
leutnant, selbst mit slavischem Namen, verwies ihn auf das allerstrengste und seit-
her hat sich in meiner Gegenwart kein zweiter Fall ereignet.«41 Aber wie bereits
erwähnt, galt dies in den allermeisten Fällen gleichbedeutend für sämtliche Natio-
nalitäten – auch für Deutsche.
Im Gegensatz zu Historikern wie Deák konnten sich die Zeitgenossen auf
die Aussagen des Betreffenden berufen oder sein Verhalten und seinen Sprach-
gebrauch beobachten, bevor sie ihm eine bestimmte Nationalität zusprachen.
Während Aussagen zu den Zugehörigkeiten anderer häufig thematisiert wurden,
finden sich nur in seltenen Ausnahmefällen Kommentare zur eigenen. Die Selbst-
zeugnisse lassen den Schluss zu, dass die Beschäftigung mit der Nationalität in der
Friedenszeit vor 1914 meist in ganz bestimmten Situationen stattfand. Zum einen
geschah sie, wenn ein Kamerad neu in eine Garnison oder Einheit versetzt wur-
de, zum anderen, wenn es im zwischenmenschlichen Umgang zu Animositäten
kam. Eine dritte Möglichkeit bestand darin, wenn ein Kamerad der üblichen Er-
wartungshaltung einer Nationalität, derer er zugerechnet wurde, nicht entsprach.
Während die Militärverwaltung und -statistik das Ziel verfolgten, die Angehö-
rigen der Armee anhand festgelegter Kriterien, v.a. der Sprache, zuordenbar und
zählbar zu machen, entsprangen Zuschreibungen in den Selbstzeugnissen häufig
40 | [Sieber, Gustav]: Quo vadis Austria? Ein Roman der Resignation. Von einem Oesterrei-
chischen Offizier. Berlin-Charlottenburg: Vita 1913, S. 69f.
41 | ÖStA/KA/NL, B/580, Rtm a.D. Josef Leb: Aus den Erinnerungen eines Trainoffiziers
(Ms. maschinschr., »geschr. im Herbst 1933 aufgrund von Kriegsbriefen, Tagebuchfragmen-
ten, Gedächtnis«), S. 4.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur