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Agatha
Schwartz234
bewegung, die dominanten Geschlechterrollen und -positionen. Ihre oft mit Ironie
gekoppelte kritische Einstellung stieß auf wenig Verständnis beim literarischen
Establishment. So zollte gerade ihr Beschützer Franzos Dérys Versuch, mit Nor-
men zu brechen, wenig Sympathie: »[…] wolle sie dadurch von sich reden machen,
indem sie Unsagbares sage, so trennten sich unsere Wege«.38
In Memoiren einer Sozialistin beschreibt Lily Braun einen Abend im Berliner
Salon von Julius Rodenberg, dem Herausgeber der Neuen Deutschen Rundschau,39
an dem ihr Déry – wohlgemerkt, auf der »anderen Seite«40 des Tisches sitzend – mit
folgenden Worten vorgestellt wurde: »ein überspanntes, hypermodernes Frauen-
zimmer«.41 Franzos, der an dem Abend auch zugegen war, soll Folgendes über Déry
bemerkt haben: »mit der borstigen Außenseite will sie nur das allzu Weiche ihres
Inneren verstecken«, worauf Déry erwidert haben soll: »Sie will?! […] Sie will gar
nicht. Aber zuweilen muß sie. Und das Müssen widert sie an. Nicht verbergen,
bloßlegen, was ihr im Innern lebt – ganz nackt und bloß –, daß Ihr guten anstän-
digen Leute eine Gänsehaut kriegt, das will sie […].«42 Als darauf offene Kritik am
Naturalismus ausgesprochen wurde, soll Déry mit dem Fuß gestampft und »sich
die vollen Lippen wund«43 gebissen haben. Es wird also kaum überraschen, dass
Déry oft Bezeichnungen angeheftet wurden wie »temperamentvoll«,44 »eine eigen-
willige Phantasie«, die sie nicht gewillt war »zu ordnen und zu zähmen«,45 eine
»feurige Natur«,46 »das Ungarmädel […], das Steppenkind« mit einer »Pusstasee-
le«,47 ein »freies, glühendes, so herrliches Zigeunerwesen«,48 eine »junge, traurige,
lechzende Furie«,49 mit dem »blonde[n] Haar einer Zigeunerin«.50
Diese orientalisierende Stereotypisierung passt durchaus zum Diskurs über
Ungarn im ausgehenden 19. Jahrhundert. Nach Teri Switzer war es in der Mon-
archie üblich, dass »all Hungarians, Armenians, Gypsies, and Jews were labeled
as Asian«.51 Die temperamentvoll-bezaubernde Inferiorität dieser orientalisierten
38 | Franzos: Juliane Déry, S. 55.
39 | Vgl. Friedlander, Fritz: Centenary of Lily Braun’s Birth. In: AJR Information 20 (1965),
S. 6.
40 | Vgl. Braun, Lily: Memoiren einer Sozialistin: Lehrjahre. München: Langen 1909, S. 469
[Hervorh. d. Verf.].
41 | Ebd., S. 470.
42 | Ebd., S. 471.
43 | Ebd., S. 472.
44 | Franzos: Juliane Déry, S. 55f.
45 | Ebner, Theodor: Literarische Amazonen. In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur,
Kunst und öffentliches Leben 28 (1899), S. 8-10, hier S. 9f.
46 | NN: Juliane Déry. In: Berliner Tageblatt v. 1.4.1899 [o.S.].
47 | Meyer-Förster: Juliane Déry, S. 265.
48 | Ebd., S. 267.
49 | Franzos: Juliane Déry, S. 52.
50 | Heidenstamm, Sven: Juliane Déry und was sie gemordet. In: Zürcher Diskussionen 2
(1899), S. 1-13, hier S. 1.
51 | Switzer, Teri: Hungarian Self-Representation in an International Context: The Magyar
Exhibited at International Expositions and World’s Fairs. In: Facos, Michelle/Hirsch, Sharon
L. (Hg.): Art, Culture and National Identity in Fin-de-Siècle Europe. Cambridge: Cambridge
University Press 2003, S. 160-185, hier S. 164.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur