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Alterität, Gender, Transdifferenz und Hybridität in Juliane Dérys Leben und Werk 237
die sprachliche Manifestation dieses Prozesses hin, wenn Frau Teste Le Beau für
manchen Pariser Ausdruck keinen entsprechenden deutschen findet: »Car je ne
respire que le monde? Wie heißt das nur auf Deutsch? Aber dafür habt Ihr kein
Wort, davon habt Ihr keinen Begriff!«65 Das Thema der sprachlichen und kulturel-
len Hybridisierung wird allerdings viel ausführlicher in Dérys Novelle Rußland in
Paris behandelt.66
Wie dem Titel zu entnehmen ist, wird Paris zum Schauplatz der Novelle über
russische Emigrantinnen und Emigranten. Die Russinnen und Russen in Paris
sind die Anderen des Franzosen Laurent: Er befreundet sich mit ihnen aufgrund
seiner stereotypen Erwartung, dadurch dem »Schmerz der Slaven«67 näherzukom-
men; ansonsten sind für ihn alle »Nichtfranzosen« nicht viel mehr als exotische
Tiere.68 Diese herabwürdigende Einstellung gegenüber den russischen Anderen
bekommt in seiner Behandlung von russischen Frauen am Beispiel Madjas eine
Gender-Dimension. Beim Besuch in ihrer bescheidenen Wohnung erlischt Lau-
rents Verliebtheit, deren Flamme sich an Madjas »exotischer« Weiblichkeit ent-
facht hat, schnell. Er hat weder Interesse für noch Mitgefühl mit Madjas Schmerz
über ihre verlorene russische Heimat. Dérys immer wiederkehrendes Thema des
oberflächlichen und leichtsinnigen Mannes taucht hier in Form eines ironischen
Kommentars wieder auf: »ein ewiger Gesinnungsaustausch mit einem reizenden
Mädchen, für das man glüht, kein Hochgenuß, zumal in einem ungeheizten Zim-
mer. – Fahr wohl […].«69
In Madjas Gespräch mit Laurent wird außerdem die Erfahrung von Exil und
von kultureller Hybridisierung in Paris lebender russischer Jüdinnen und Juden
offenbart. Durch Madja entblößt Déry den wachsenden Antisemitismus ihrer Zeit
– hier in der Form der Pogrome in Russland, denen Madjas Eltern zu Opfer gefallen
sind.70 Im Gegensatz zu Laurents französischem Nationalismus verurteilt Madja
den Patriotismus als die Hauptursache für den Völkerhass: »Der Patriotismus muß
aufhören! Der Patriotismus ist mit das faulste Gift, daran wir elend zu Grunde
gehen!«71 Déry projiziert hier eine Utopie ohne Grenzen, ohne Klassen, Nationen
und Religionen, eine Welt also, in der es keine Anderen mehr geben soll. Dement-
sprechend fühlt sich Madja in allen Ländern als Fremde, da dort der Nationalstaat
favorisiert und die Realität der kulturellen Hybridisierung geleugnet wird. Madja
lehnt daher auch die Ehe und Mutterschaft ab, weil sie keine Kinder in eine Welt
setzen möchte, in der sie zu einem permanenten Anderssein verurteilt ist. Es ist
65 | Déry: Es fiel ein Reif, S. 7.
66 | Déry, Juliane. Rußland in Paris. In: dies.: Katastrophen. Novellen. Stuttgart: Adolf Bonz
& Comp. 1895, S. 87-132. Die Novelle, die 1893, 1895 und 1897 veröffentlicht wurde, wird
im Folgenden nach der Ausgabe von 1895 zitiert.
67 | Ebd., S. 89.
68 | Vgl. ebd., S. 108.
69 | Ebd., S. 98.
70 | Déry spielt hier auf die Pogrome an, die sich zwischen 1881 und 1884 in Südrussland
ereigneten, als Teile der jüdischen Bevölkerung des Attentats gegen den Zaren Alexander II.
beschuldigt wurden.
71 | Déry: Rußland in Paris, S. 97.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur