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Nomadische Berufspraxis und Attraktion der Großstadt 245
Selbst- und Weltverständnis beeinflusste und wie die Umzüge, Neuorientierungen
und Unsicherheiten lebenspraktisch bewältigt wurden, ist bislang kaum Gegen-
stand (theater-)historischer Untersuchungen geworden. In einem der wenigen (al-
lerdings selbst schon etwas historisch gewordenen) Artikel zum Thema schreibt
Malte Möhrmann: »Sie führen ein Nomadenleben, reisen in ganz Deutschland
herum […]. Sie fahren 3. Klasse, alles so billig wie möglich, solang sie keiner sieht;
und wäre das Trampen schon erfunden, sie täten auch das, trotz Schleppe, trotz
bodenlangem, den Dreck mitfegenden Saumkleid.«8
Bevor es 1919 mit dem »Normalvertrag« in Deutschland9 und 1922 mit dem deut-
lich umfassenderen »Schauspielergesetz« in Österreich10 endlich zu verbindlichen
Regeln für die Anstellung von Schauspielern und Schauspielerinnen kam, befan-
den sich diese in einem prekären, quasi rechtsfreien Raum – aufgrund des künst-
lerischen Charakters ihrer Tätigkeit waren sie weder im Arbeitsrecht noch in der
Sozialversicherung erfasst.11 Der 1846 gegründete Deutsche Bühnenverein führte
als Kartellverband der Theaterdirektoren eine schwarze Liste mit kontraktbrüchig
gewordenen Schauspielern und Schauspielerinnen und untersagte seinen Mit-
gliedern diese einzustellen. So wurde jeder Versuch, vertragliche Verbesserungen
durchzusetzen oder Konflikte mit der Direktion auszutragen, im Keim erstickt.12
Doch neben der geteilten Prekarität gab es noch eine Vielzahl von expliziten
Benachteiligungen für Schauspielerinnen: Sie mussten (im Unterschied zu ihren
männlichen Kollegen) auch die historischen Kostüme selbst beisteuern, Bühnen-
leitungen waren berechtigt, im Falle der Heirat einer Schauspielerin den Vertrag
mit dem Tag der Hochzeit zu kündigen,13 sie hatten wegen ihrer Berufswahl fast
alle mit dem erbitterten Widerstand ihrer Familien – und dem häufig darauf fol-
genden Bruch – zu rechnen, vielleicht mit Ausnahme jener Frauen, die aus Thea-
ter- beziehungsweise Artistenfamilien stammten, und mit zunehmendem Alter
waren Schauspielerinnen häufig von Arbeitslosigkeit und Armut bedroht. Deshalb
stellt dieser Beitrag auch Frauen als Bühnenkünstlerinnen ins Zentrum, da sich
bei ihnen multiple Differenzerfahrungen und ein Bewusstsein der Prekarität ihrer
Identitätskonstruktionen in ihrem Lebensvollzug, ihrer künstlerischen Entwick-
lung und ihren Äußerungen deutlich zeigen.
Soweit vorhanden und zugänglich, sollen biografische Dokumente, Selbstzeug-
nisse und nicht zuletzt das bühnenkünstlerische Œuvre von vier Schauspielerin-
nen beziehungsweise Sängerinnen, die in der österreichisch-ungarischen Monar-
chie geboren und aufgewachsen sind – Tilla Durieux (1880–1971), Julie Kopacsy
8 | Möhrmann, Malte: Die Herren zahlen die Kostüme. Mädchen vom Theater am Rande der
Prostitution. In: Möhrmann, Renate (Hg.): Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weib-
lichen Bühnenkunst. Frankfurt a.M.: Insel 1989, S. 261-280, hier S. 261.
9 | Vgl. Helleis, Anna: Faszination Schauspielerin. Von der Antike bis Hollywood. Eine Sozial-
geschichte. Wien: Braumüller 2006, S. 95f.
10 | Vgl. Schenner, Eva: Die Situation der Schauspieler in Wien im frühen 20. Jahrhundert.
Der lange Weg zum Schauspielergesetz. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Wien 2006.
11 | Vgl. Schmitt, Peter: Schauspieler und Theaterbetrieb. Studien zur Sozialgeschichte des
Schauspielerstandes im deutschsprachigen Raum 1700–1900. Tübingen: Niemeyer 1990,
S. 55.
12 | Vgl. Helleis: Faszination Schauspielerin, S. 92f.
13 | Vgl. ebd.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur