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Eva
Krivanec260
unfreiwillig komisch und in einer besonders traurigen Szene »brach ein gerade-
zu frenetischer Jubel aus, während ich auf der Bühne stand«.95 Das Gelächter galt
zwar dem Stück und dessen Figuren mehr als den Schauspielerinnen und Schau-
spielern, doch Tilla Durieux verkroch sich aus Scham unter dem Tisch und zog
sich die Tischdecke über den Kopf. Der Vorhang musste fallen.96
In der folgenden Saison hatte Max Reinhardt das Deutsche Theater gepach-
tet, das Kleine Theater überließ er hingegen Viktor Barnowsky. Die Eröffnung im
Oktober 1905 sollte wieder eine großartige Klassiker-Inszenierung werden, und
zwar mit Heinrich von Kleists Käthchen von Heilbronn. Durieux spielte neben Lucie
Höflich als Hauptdarstellerin und Friedrich Kayßler als Hauptdarsteller die Kuni-
gunde, eine Rolle, die ihr selbst nicht behagte97 und in der sie in den Augen vieler
Kritiker übertrieben, »bis zur Parodie«98 spielte, aber doch – so jedenfalls Alfred
Klaar in der Vossischen Zeitung – »den Ton der Kanaille, in der noch ein Stück Hexe
steckt«,99 traf.
In diese Zeit fiel auch die für ihr Leben entscheidende Bekanntschaft mit dem
jüdischen Verleger und Kunstmäzen Paul Cassirer, in den sie sich umgehend ver-
liebte. So löste sie schon 1904 die erst 1903 geschlossene Ehe mit dem Maler Eugen
Spiro und lebte in einem in der Öffentlichkeit viel kommentierten unehelichen
Liebesverhältnis mit dem Berliner Intellektuellen und Lebemann Cassirer, bis sie
ihn 1910 schließlich heiratete.100
Es folgten bedeutende Rollen in Friedrich Schillers Kabale und Liebe, Frank
Wedekinds Der Marquis von Keith, Molières Tartüff, in Jacques Offenbachs Orpheus
in der Unterwelt, in Gerhart Hauptmanns Friedensfest, Friedrich Hebbels Gyges und
sein Ring, Hugo von Hofmannsthals Elektra etc.101 Dennoch hatte Tilla Durieux
den Eindruck zu stagnieren,102 auch wenn sie gerade bei avancierten Künstlerin-
nen und Künstlern beziehungsweise Schriftstellerinnen und Schriftstellern den
Ruf einer Ausnahmeerscheinung unter den deutschen Schauspielerinnen genoss:
Else Lasker-Schüler widmete ihr 1910 ein bewunderndes Porträt in der Zeitschrift
Das Theater,103 und für Heinrich Mann gab es »keine vollkommenere Vertrete-
rin«104 moderner Schauspielkunst als sie.
Nach großen Publikumserfolgen als Titelfigur in Hebbels Judith und als Eboli
in Schillers Don Carlos ging Tilla Durieux 1909 und 1910 mit einem guten Teil
des Ensembles des Deutschen Theaters auf ausgedehnte Gastspielreisen. Im Jahr
95 | Ebd., S. 52.
96 | Vgl. ebd.
97 | Vgl. ebd., S. 62.
98 | Klaar, Alfred: [Kritik zu Kleists Käthchen von Heilbronn]. In: Vossische Zeitung v.
20.10.1905, zit. n. Jaron/Möhrmann/Müller: Berlin – Theater der Jahrhundertwende, S. 586.
99 | Ebd.
100 | Vgl. Rai, Edgar: Tilla Durieux. Eine Biographie. Berlin: Parthas 2005, S. 37, 41-43.
101 | Vgl. Weigel, Alexander/Deutsches Theater (Hg.): Das Deutsche Theater. Eine Ge-
schichte in Bildern. Berlin: Propyläen 1999, S. 345-348.
102 | Vgl. Rai: Tilla Durieux, S. 38-39.
103 | Vgl. Lasker-Schüler, Else: Tilla Durieux. In: Das Theater (Berlin), Januar 1910, zit. n.
Loeper u.a.: Tilla Durieux, S. 12f.
104 | Mann, Heinrich: Tilla Durieux. In: Zeit im Bild (Berlin) v. 23.4.1913, S. 917, zit. n. Loe-
per u.a.: Tilla Durieux, S. 42.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur