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Nomadische Berufspraxis und Attraktion der Großstadt 263
Schauspielers und der Schauspielerin auseinander und lässt dabei erkennen, wie
zukunftsweisend tatsächlich ihre künstlerische Konzeption, die sie seit Beginn des
20. Jahrhunderts entwickelte und schärfte, war:
Nur der Schauspieler reißt vor der Öffentlichkeit jede Maske ab, bis zuletzt nur das zuckende
Fleisch übrigbleibt, er tut es unbewußt, weil ihn eine unbekannte Macht dazu zwingt. Dies gilt
allerdings nicht für diejenigen, die sich auf die Schaukel des Pathos schwingen, die ›Wehe,
Wehe‹ rufen und dabei ins Publikum schielen, ob es auch seine Wirkung tut. Der Künstler ist
ein Exhibitionist aus Demut vor der Wahrheit.115
Es ist wohl kein Zufall, dass Gilles Deleuze und Félix Guattari für die Beschrei-
bung des Lebens der Nomadinnen und Nomaden den Begriff Intermezzo gewählt
haben, der seine Wurzeln in der Praxis des Theaters hat. Das Intermezzo ist ein im
Barock entstandenes, häufig tänzerisches oder musikalisches Zwischenspiel zwi-
schen den Akten einer Oper oder eines höfischen Schauspiels. Das Nahverhältnis
zwischen dem Transitorischen des Theaters und dem Transit der Nomadinnen und
Nomaden besteht nicht nur auf sprachlicher Ebene, sondern durchzieht die Biogra-
fien von Theatermacherinnen und Theatermachern auf doppelte Weise. Sie sind
tatsächlich einer nomadischen Berufspraxis – besonders zu Beginn ihrer Karriere
– ausgesetzt, und sie bleiben häufig Fremde an dem Ort, an dem sie sich schließ-
lich niederlassen, sofern sie nicht stetig weiterziehen wie etwa Adele Moraw. Sei
es, wie bei Fritzi Massary, dass sie zwar vom lokalen Publikum mit wachsender
Begeisterung angenommen wurden, doch immer mit ihrer Herkunftsstadt identi-
fiziert blieben. Sei es, wie bei Julie Kopacsy, dass sie nach anfänglich steiler Karrie-
re schließlich doch im Hintergrund des Privaten der Karriere des Mannes behilf-
lich sind und aus der Öffentlichkeit verschwinden. Sei es, wie bei Tilla Durieux,
dass sie aufgrund ihres Aussehens und ihrer ungewöhnlichen Schauspielkunst,
später auch noch aufgrund ihres pazifistischen und sozialistischen Engagements
als »östlicher Typus«, als Fremde oder als Fremdkörper gesehen wurden. Sei es
schließlich – und das war wohl der schlimmste Bruch für die Betroffenen –, dass
sie als Jüdinnen und als mit Juden verheiratete Frauen mit einem Schlag aus ihrer
Wahlheimat vertrieben wurden.
Identität zeigt sich in allen vier Biografien als etwas äußerst Fragiles, von vielen
Seiten – durch die darstellerische Praxis ebenso wie die Ortswechsel und Neuan-
fänge – Infragegestelltes und lediglich situativ zu Bestimmendes. Sie waren als
Schauspielerinnen und Bühnenkünstlerinnen wandlungsfähig und vielseitig, in
mehreren Genres und Medien probierten sie ihr Können, jede ihrer Stationen war
Intermezzo auf einem Weg, der sie – mit zunächst offenem Ausgang – weit weg von
ihren Ursprüngen führte. Sie gingen mit dieser Offenheit und Unentschiedenheit
jedoch – auf sehr unterschiedliche Weise, aber gleichermaßen – offensiv um und
realisierten eine Freiheit, die für die meisten Frauen ihrer Generation außerhalb
des Möglichen lag.
115 | Durieux, Tilla: Meine ersten neunzig Jahre. Erinnerungen. Die Jahre 1952–1971 nach-
erzählt von Joachim Werner Preuß. München/Berlin: Herbig 1971, S. 87f.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur