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Versuche der Horizonterweiterung 309
Es liegt vielmehr tief in der Natur jener Nationalität, daß sie die erzählende, daneben aber
auch die reflektierende Gattung bevorzugt. Dies ist die einfachste Form, die dem Leser am
meisten entgegenkommt, ihn breit durch den Stoff schon allein in Spannung erhält und
gleichzeitig dem nüchternen, patriarchalischen Sinn des Bauern- und Bürgervolkes Gele-
genheit zur moralischen Reflexion bietet. Dazu kommt noch eine Vorliebe für Geschichte im
Gesamtleben dieses Volksstandes.70
Nach demselben Prinzip – der Annahme, dass Literatur Ausdruck der Nationali-
tät sei – wurde die »Schwerfälligkeit« der Sachsen als Erklärung für die verspätete
Rezeption neuer Strömungen herangezogen. Im Geiste zeitgenössischer kompa-
ratistischer Ansätze kam es im Falle des Volkslieds wiederholt zum Vergleich der
nationalen Literaturen. Dabei wurde den Rumänen und Ungarn der Vorrang ein-
geräumt, da
der Deutsche im allgemeinen viel kaltblütiger ist und nur selten zum Feuer der Leidenschaft-
lichkeit sich hinreißen läßt, seine Gefühle also auch mehr abgeklärt und vertieft sind – wes-
halb denn auch sein Liebeslied sich an Unmittelbarkeit kaum mit dem des heißblütigern
Magyaren oder Rumänen vergleichen läßt.71
Auch die Artikel zur Geschichte, Ethnologie, Geografie weisen Hetero- und Auto-
stereotype auf. Der ungarischen Nation als dominierender Nation im Staat wird
die beanspruchte Suprematie freilich nicht bescheinigt: Ihre geschichtliche Ent-
wicklung zeige ein widerspruchvolles Bild »eines glücklich begabten aber jungen
Volkes, das durch die Umstände begünstigt ein großes, bereits kultiviertes Reich
mit geringer Anstrengung erobert hat«72 – so der Verfasser eines Überblicks zum
Thema, der zugleich den Nachholbedarf bei den Ungarn betont. Ein weiterer Bei-
trag eines ungarischen Autors setzt den Gedankengang fort und identifiziert die
Gründe der schwierigen Annäherung an westliche Werte in den asiatischen Wur-
zeln der ungarischen Kultur.73 Ein anderes Bild ergibt sich, wenn die Ungarn nicht
als Staatsnation, sondern als Nachbarn in Aufsätzen vorkommen.74 Berichte über
kulturelle Ereignisse, wie die Eötvös-Feier in Kronstadt/Brașov/Brassó oder alltäg-
liche Begebenheiten – z.B. über den Umzug sächsischer Burschen aus Schirkany/
70 | Hajek, Egon: Der Roman vor dem Jahre 48 in Deutschland und in Siebenbürgen. In: Die
Karpathen 13 (1914), S. 398-403, hier S. 398.
71 | Ungar, Hans (Reussen): Das siebenbürgisch-sächsische Volkslied. In: Die Karpathen 16
(1908), S. 481-486, hier S. 481-482.
72 | Vgl. Herman, Alfred: Die Entwicklung der ungarischen Staatsidee. In: Die Karpathen 23
(1908), S. 718-723, hier S. 718.
73 | Vgl. Kőrösfői-Kriesch, Aladár: Über die Frage einer ungarischen Kultur. In: Die Karpathen
9 (1910), S. 273-276.
74 | Vgl. Ungar, Hans: Ungarisches Lehngut im Siebenbürgisch-Sächsischen. In: Die Karpat-
hen 14 (1912), S. 428-430. »Wenn die Sachsen auch politisch, national ein Sonderleben
führten, welches ihnen die Verfassung sicherte, so daß es fraglich erscheinen könnte, ob
die Ungarn einen tieferen Einfluß auf die Sachsen ausgeübt hätten […], so finden sich doch
zahlreiche Zeugen für einen lebhaften Verkehr und eine rege Berührung mit dem ungarischen
Volke in der sächsischen Tracht und Mundart.« Ebd., S. 428.
Transdifferenz und Transkulturalität
Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Titel
- Transdifferenz und Transkulturalität
- Untertitel
- Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen Österreich-Ungarns
- Autoren
- Alexandra Millner
- Katalin Teller
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3248-8
- Abmessungen
- 15.4 x 23.9 cm
- Seiten
- 454
- Schlagwörter
- transdifference, transculturality, alterity, migration, literary and cultural studies, Austria-Hungary, Transdifferenz, Transkulturalität, Alterität, Migration, Literatur- und Kulturwissenschaften, Österreich-Ungarn
- Kategorie
- Kunst und Kultur