Seite - 173 - in Über Bücher reden - Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
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© 2021 V&R unipress, Brill Deutschland GmbH
ISBN Print: 9783847113232 – ISBN E-Lib: 9783737013239
Review-Kommentar-Threads aggregieren sich zu einer temporären Gemein-
schaft, die sichnicht vorrangig anhierarchisierendenWertungenorientiert.
Die sozialePraxis derLiteraturhat imZugederdigitalenTransformation in
denLektürenundinderWeise,wieüberdasGelesenekommuniziertwird,neue
Wegeabgesteckt,diejenseitsalterAutoritätsansprücheverlaufen,wiesieetwaim
zwanzigstenJahrhundertdasFeuilletonunddiespezialisierteLiteraturkritik für
eine an diesen Distinktionen orientierte Bildungsöffentlichkeit etabliert hatte.
Diese neuenWege sindunsicher undwerdenunsicher bleiben, sie brechen ab,
probieren immer wieder überraschendeKreuzungen oder hören auch einfach
auf. Der epochale Gültigkeitsanspruch vonWertungen spielt für diese fluide
PraxiskaumnocheineRolle.WasimUmkehrschlussnichtbedeutet,dassKritik
nichtmehr stattfindet.DieRelevanzvonKritik, ob inDetails oder inBezugauf
größereStrukturenwieWerkeoderThemen, lässt sich ineinervondensozialen
Medien geprägten digitalen Kommunikation, wie ich sie hier amBeispiel von
Social Reading zeigenmöchte, eher prozessual als in denKategorien einer in-
stitutionalisiertenunddamit professionalisiertenLiteraturkritik ermitteln.Das
hatKonsequenzen fürdieKritik und fürdenBegriff vonKritik.Undnatürlich
sinddieseKonsequenzenvordemHintergrundeines grundlegendenStruktur-
und Funktionswandels von Literaturkritik zu sehen, wie er nicht erst, aber ve-
hement im Zuge der digitalen Transformation der letzten zwei Jahrzehnte zu
beobachten ist.
Als Strukturwandel ist dieserProzessvielfachbeschriebenworden.4Wiesich
die Funktion vonLiteraturkritik verändert hat, wird in diesenBeschreibungen
meist nur amRandebeleuchtet.DiehäufigsteArgumentationsfigur– zunächst
im Feuilleton und dann kaum variiert in literaturwissenschaftlichenUntersu-
chungen– folgt derVorstellung,dassLiteraturkritik einewesentlicheFunktion
hat–nämlich,diegutevonderwenigergutenLiteraturzuscheiden,dieimLaufe
der Zeit diverse Abstriche oder Erweiterungen erfahren hat. Literarische Pro-
duktionen werden als kulturelle Artefakte verstanden, diemehr oder weniger
großeRelevanz zur SelbstbeschreibungderGesellschaft haben, ausder sie her-
vorgehen. Dass es sich bei dieser Gesellschaft vor allem um eine bürgerliche
handelt und es sie auch noch nicht – gemessen an der deutlich längeren Ge-
schichte literarischerProduktion–solangegibt,dassgegenwärtigdieFortdauer
dieser Zivilgesellschaft nicht garantiert sein muss und damit auch nicht die
Notwendigkeit der Selbstbeschreibung und kritischen Reflexion, wird in den
turnusmäßigenBestandsaufnahmenzurSeelenlagederLiteraturkritikoftnicht
bedacht. Die für einendurchaus überschaubarenhistorischenZeitraumentwi-
4 Vgl. Eder et al. 2016,Perlentaucher.de2015,Kaulen/Gansel2015,Basting2013,Anz
2010,Büttner2009,Schwens-Harrant2008,Nickel2005,Anz/Baasner2004,Neuhaus
2004,Miller/Stolz2002,Albrecht2001,Löffler1999,Schneyder1998,Altmann1983.
SocialReadingundLiteraturkritik 173
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Über Bücher reden
Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Titel
- Über Bücher reden
- Untertitel
- Literaturrezeption in Lesegemeinschaften
- Autor
- Doris Moser
- Herausgeber
- Claudia Dürr
- Verlag
- V&R unipress
- Datum
- 2021
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-7370-1323-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.2 cm
- Seiten
- 262
- Kategorie
- Lehrbücher