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Das heilige INariazell.
berühmten Gotteshauses stehen. Da hebt das dumpfe Getöne der Glocken an, in seinen leisen, melancholischen Aeeorden
fast vergleichbar dem Tunspiele der Mundtrommcln. Schon dieses Geläute hat ein Berückendes. Und die Pilger
aus fremden Ländern ziehen ein in die Kirche zu Zcll. In der Kapelle des Gnadcnaltarcs strahlen die ungezählten
Sterne der Kerzenflammen. Die Ankömmlinge rutschen auf den Knieen über die Steinplatten hin bis zur heiligen
Stätte, wo in dem Gezeltc voll goldener Zier die Jungfrau thront. Das Bildniß der Mutter mit dem Kinde, in
weißer Seide und mit funkelnden Kronen. Und sie küssen die Steine, und sie legen sich hi» und strecke» die
Hände aus und sind bewegungslos, als hätte sie die Keule des Mörders erschlagen. — Und ivenu es Abend wird,
schweben sie in langen Reihen
mit Kcrzenflammen durch die
Kirche und in allen Puden
hallt Gesang, Hier der Be-
geisterung Hochruf: „O, sei
gegrüßt, viel tausendmal,
Mariazcll, du Gnadenthal!
Du allcrschönste Mutter Jesu!"
Dort das flehende Gebet der
Vangniß: „Der Tag ist ver-
gangen, die Nacht ist schon
hier; gute Nacht, o Maria,
bleib ewig bei mir!" Und
weiterhin und durcheinander
schallen fremdartige Weisen
fremder Sprachen. Ein Gebet
sucht das andere zu über-
schreie», eiu Gesaug deu an-
dern zu übertönen. Es ist
eine ungebcrdige Kindcrschaar,
die hier die Mutter bestürmt,
zuerst demüthig uud schmei-
chelnd, bald aber kühner und
wilder werdend, bis endlich
gar Einer in der Begeiste-
rung Hochfluth die Schranke»
des Marmorgeländers über- springt, hinstürzt auf dac-
geheiligte Bildniß nnd den
Eanm des Mantels mit heißen
Küssen und Thränen bedeckt.
— Ein grauenhafter Auf-
schrei ist's, aus tiefstem Herzen
der Menschheit. Und
draußen rnht die Alpcnwelt
in lieblichein Abendfrieden
und die Felshäupter glühe»
i» stiller Herrlichkeit.
Selbst dem Freigeist
wird die Stätte heilig. Der
Gedanke, daß Millionen und
Millionen von Menschen aus
fernen Zonen ihren Kummer,
ihre Drangsal herbeigetragen
haben, um sie vor der Gestalt
in weißem Zelte niederzulegen
— dieser Gedanke senkt einen
wunderbaren Schein auf das
uralte Stück Lindcnhulz, das
einst gewachsen sein mag in
jenen Wäldern, in welchen
nnscrc Vorfahren ihre Voll
Mondnächte noch dem Wuutan
haben geweiht. —
Schon am zweiten Tage, nachdem znr nächtlichen Zeit vielleicht Einer oder der Andere den Meßner zn
bestechen versucht, daß er ihm die Kirche öffne und das hochgelobte Gnadenbild zum Kusse reiche, oder ihm eine
Kerze vom Frauenaltare verkaufe für die Sterbstnnde; nachdem sie den Ihren daheim Zellerangcdenkcn gekauft, Rosen
kräuzc, Heiligenbildchen, Amnlete, Gebetbücher, Wachsstöcke u. s. w. nnd dieselben zur Weihe gctragcu — uach alldem
ist das Scheiden da. „Wie kurz der heilige Tag, wie kurz die Zcllerfreuden, muß heut' schon Urlaub nehmen,
Maria, von dir scheiden! O Iuugfrau, weun wir sterben, u thu' uns Gnad' erwerben, geleit' zum Himmel uus're
Seel', vergiß uns nicht, o Maria Zell!" So der wehmüthige Gesang. — Unter Glockengeläute nnd Tromvetcnschall
zieht die Schaar um die Kirche, verneigt noch einmal ihre Fahnen und wallt davou. Und Andere kommen nnd
Andere ziehen uud unerschöpflich an Gnaden ist das Bildniß im weißen Zelt.
Ivallfcchrtskirche in Mariaze»,
Unser Vaterland
Steiermark und Kärnten
- Titel
- Unser Vaterland
- Untertitel
- Steiermark und Kärnten
- Autoren
- Peter.K. Rosegger
- Fritz Pichler
- A. von Rauschenfels
- Verlag
- Gebrüder Kröner
- Ort
- Stuttgart
- Datum
- 1877
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 28.1 x 42.23 cm
- Seiten
- 344
- Schlagwörter
- Wandern
- Kategorien
- Geographie, Land und Leute
- Geschichte Vor 1918