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Vorbemerkungen36
Am Atheismus mag vielleicht die Engstirnigkeit jener Theisten Schuld sein, besser gesagt je-
ner Theologen, die zu sehr am Buchstaben kleben. [...] Wie auf der einen Seite die Kleinka-
librigkeit der Interpreten Schuld am Atheismus sein kann, so auf der anderen Seite die Selb-
stüberschätzung der einseitig am naturwissenschaftlichen Modell Orientierten, die sagen, es
existiert nur, was sich hineinprojizieren lässt bzw. sich abbildet in der Projektion der Ebene,
während es in Wirklichkeit mehrdimensional ist.
Aufgrund seiner persönlichen Lebenserfahrung scheint Frankl als Überlebender des
Holocaust bewusst denen entgegentreten zu wollen, die meinen, „nach Auschwitz“
müsse man ehrlicherweise den Glauben an einen Gott der Liebe aufgeben. Frankl ist
der Überzeugung, dass sowohl der atheistische als auch der religiöse Glaube – und
das ist gültig auch „nach Auschwitz“ – auf einem existentiellen Akt beruht, der durch
Unbedingtheit gekennzeichnet werden kann. Seinerseits plädiert Frankl für eine Art
religiöses Trotzdem-Ja-zum-Glauben-sagen. Denn
[...] siehe da, der Glaube, der wirkliche Glaube besteht auch dann noch fort. Wie viele Leute
sagen, in Auschwitz haben doch sicher die meisten Leute den Glauben verloren! Das ist gar
nicht richtig. Ich habe keine Statistik, aber nach meinen Eindrücken, meinem Gefühl, ist es
so, dass mehr Leute in Auschwitz ihren Glauben wiedergewonnen haben und in mehr Men-
schen der Glaube in Auschwitz erstarkt ist – und das heißt trotz Auschwitz –, als dass Leute
ihren Glauben dort verloren haben. Es sollte also nicht gleich immer wieder die Formulierung
‚nach Auschwitz’ gebracht werden im Zusammenhang mit der Fähigkeit zu glauben, sondern
es sollte hier die Rede sein von einem Glauben trotz Auschwitz.
Wo es darum geht, die Argumente zu nennen, die für seinen religiösen Glauben
sprechen, hält es Frankl mit der Pascalschen Wette: Da der Mensch sich in der Frage
nach der Existenz des letzten Sinns auf der Ebene der Vernunftargumente in einer
Pattsituation befindet, muss für den Glauben daran gewettet werden. Der Grund für
diese dringende Empfehlung besteht darin, dass der Erwartungswert des Gewinns,
der durch den Glauben erreicht werden könnte, immer unvergleichbar größer sei als
der Erwartungswert im Falle des atheistischen Glaubens (Pascal 2013, 246–247). Die
Entscheidung für den religiösen Glauben – als „das Ergreifen der einen Denkmög-
lichkeit“ – wird also bei Frankl „nicht mehr aus einem rein logischen Gesetz“ heraus
getroffen, sondern eher „aus der Tiefe seines eigenen Seins“:
In dieser Situation, mit dieser Situation konfrontiert, hat der Mensch zu entscheiden, ein fiat
zu sagen, ein Amen, ein So-sei-Es, ich weiß es nicht, aber ich entscheide mich dafür [...], ich
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Buch Viktor E. Frankl - Gesammlte Werke"
Viktor E. Frankl
Gesammlte Werke
Psychotherapie, Psychiatrie und Religion. Über das Grenzgebiet zwischen Seelenheilkunde und Glauben
- Titel
- Viktor E. Frankl
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Autoren
- Alexander Batthyany
- János Vik
- Karlheinz Biller
- Eugenio Fizzotti
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20574-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 318
- Schlagwörter
- Psychotherapie, Psychologie, Psychiatrie, Religion, Logotherapie, Existenzanalyse, Viktor Frankl
- Kategorie
- Geisteswissenschaften