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Vorbemerkungen38
[W]ir müssen, so lange es geht, die Priorität des Tuns aufrecht erhalten, müssen versuchen,
die Leidensursachen zu beseitigen: durch Operation und Therapie und Politik usw. Und nur
wenn nichts übrig bleibt, dann müssen wir das Leiden annehmen. […] [W]enn dem so ist,
dann könnte man sagen, dass der Sinn des Leidens darin bestehen kann […], dass ich an mir
etwas tue, das ich mich verändere, dass ich mich wandle: ein Tun an mir selbst, nicht in die
Welt hinaus.
Die theoretische Beschäftigung mit dem Leiden, und das heißt, „die Frage, welchen
Grund Gott gehabt habe, das Leiden und das Übel zuzulassen“ (Frankl 1990, 383)
ist Frankl aufgrund seiner Verwurzelung im Ethos des Judentums zuwider. Anstatt
theoretische Erwägungen anzustellen, sollten wir angesichts der Theodizee-Frage
nach Frankl „die dem Menschen einzig angemessene Haltung“ einnehmen, und zwar
„die des Hiob, der mit Gott gehadert hat, dem Gott dann ein paar Dutzend Fragen
gestellt hat und der dann die Hand auf den Mund gelegt hat, um zu schweigen im
vorweggenommenen sokratischen Wissen darum, dass er nichts weiß“ (Frankl 1990,
384).
Nichtdestotrotz muss man sich vor Augen führen, dass die Leiderfahrung im All-
gemeinen als ein schwerwiegendes Argument gegen die Rationalität des Glaubens
und für die argumentative Überlegenheit des Atheismus diskutiert wird. Der religi-
öse Glaube, der dieser Herausforderung dadurch zu begegnen versucht, dass er „jede
argumentative Auseinandersetzung von vornherein als zynisch diffamiert“, erweckt
deshalb „unweigerlich den Eindruck, er habe vor dem Leidproblem intellektuell ka-
pituliert“ (Kreiner 2005, 42–43). Andererseits vollzieht sich eine bessere Bewälti-
gung der Schicksalsschläge zwar dadurch, dass man ihnen einen Sinn abzugewinnen
versucht; die Sinnfindung „erfolgt nun aber auf der Basis einer begrifflich-deutenden
Integration der Leiderfahrung, die den theoretischen Rahmen für die Sinnzuweisung
bildet“. Deshalb darf man – auch im Kontext der Logotherapie und Existenzana-
lyse – nicht aus den Augen verlieren, dass „die theoretische Seite des Leidproblems
einen signifikanten Aspekt des zu lösenden existentiellen Problems darstelle, dass
das theoretische Problem aber nur durch eine argumentativ überzeugende Lösung
beantwortet werden könne“ (Kreiner 2005, 44).
Auch wenn die theoretisch-argumentativen Antworten auf die Theodizee-Frage
für Viktor Frankl im allgemeinen „nichts anderes als ein einziger großer Anthro-
pomorphismus“ sind (Frankl 1990, 383), scheint er im Gespräch mit Pinchas La-
pide indirekt der „reductio in mysterium“ als einem theoretisch orientierten Theo-
dizee-Versuch am nächsten zu kommen (Kreiner 2005, 49–78), wenn er – auf dem
Fundament einer „Gottesauffassung mit einer deutlichen jüdischen Betonung“ stehend
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Viktor E. Frankl
Gesammlte Werke
Psychotherapie, Psychiatrie und Religion. Über das Grenzgebiet zwischen Seelenheilkunde und Glauben
- Titel
- Viktor E. Frankl
- Untertitel
- Gesammlte Werke
- Autoren
- Alexander Batthyany
- János Vik
- Karlheinz Biller
- Eugenio Fizzotti
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20574-6
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 318
- Schlagwörter
- Psychotherapie, Psychologie, Psychiatrie, Religion, Logotherapie, Existenzanalyse, Viktor Frankl
- Kategorie
- Geisteswissenschaften