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12 Einleitung
Kriegsverletzten konfrontiert, hatten sie „die Absicht, den Mann ohne Glieder von
einem Spital ins andere zu schicken, um die Kriegsinvaliden zu trösten und aufzu-
muntern.“
Tatsächlich machte der Erste Weltkrieg die zunächst singuläre Erfahrung der kör-
perlichen Beschädigung zu einer kollektiven, deren Bewältigung nicht nur die In-
dividuen, sondern den Staat als ganzes herausfordern sollte. Entsprechend suggestiv
ist auch die Bilderfolge, die den kurzen Artikel illustriert und ohne viele Worte eine
Geschichte erzählt : Selbst der größte vorstellbare Schaden – der Verlust aller vier Ex-
tremitäten – kann repariert werden und am Ende aus einer hilflosen Kreatur ein voll-
wertiges Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft machen. Dieses Konzept sollte die
gesamte Kriegsbeschädigtenfürsorge im und nach dem Ersten Weltkrieg bestimmen.
Der vorliegende Band hat die Geschichte der österreichischen Kriegsbeschädig-
tenfürsorge oder – spätere Ausführungen vorwegnehmend – der Kriegsopferfür-
sorge zum Inhalt, wie sie im Ersten Weltkrieg entworfen und nach dem Ende dieses
Krieges weiterentwickelt wurde. Wie der Staat mit den verwundeten, erkrankten,
vor allem aber den dauerhaft beschädigten Soldaten umging, welche Maßnahmen
er zu ihrer eigenen, aber auch zur Versorgung ihrer Angehörigen und Hinterbliebe-
nen traf, ist Thema dieses Buches. Neben der Beschreibung und Untersuchung des
Versorgungssystems, seiner Normen und seiner Ausprägungen geht es dabei vor al-
lem um die Analyse der staats- und sozialpolitischen Bedeutungszusammenhänge
dieses relativ jungen, aber außerordentlich wirkmächtigen Feldes der Sozialpolitik.
Mit dem Ersten Weltkrieg nimmt die Studie den ersten großen Krieg des 20. Jahr-
hunderts in den Blick. Dieser Krieg gilt in vielerlei Hinsicht als Zäsur. Erster „totaler“
Krieg auf dem europäischen Kontinent, „Urkatastrophe“2 des 20. Jahrhunderts und
Periodisierungsmarke, teilt er die Zeit in ein Davor und ein Danach. Die sich rasant
entwickelnde Waffentechnik auf militärischem, der Nationalismus auf ideologischem
und die Industrialisierung der Waffenproduktion auf wirtschaftlichem Gebiet taten
das ihrige, den Ersten Weltkrieg in jeder Beziehung von den zuvor geführten Kriegen
abzuheben. Die hohen Opferzahlen
– nicht zuletzt induziert durch die infolge der Ge-
neralmobilmachung erstmals schlagend gewordene allgemeine Wehrpflicht
– machten
diesen Krieg auch für die Kriegsopferfürsorge zu einem Wendepunkt. Die Zahl der
Gefallenen dieses ersten industrialisierten Massenkrieges und die der Verwundeten
sowie dauerhaft Invaliden war erschreckend hoch – und das sogar schon vor den Ma-
terial- und Vernichtungsschlachten der zweiten Kriegsphase, in der jeder beteiligte
2 Den Begriff prägte der US-amerikanische Historiker George F. Kennan in den späten 1970er-Jahren ;
siehe auch Wolfgang J. Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914–1918,
Stuttgart 2002.
Die Wundes des Staates
Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Die Wundes des Staates
- Untertitel
- Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938
- Autoren
- Verena Pawlowsky
- Harald Wendelin
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79598-8
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 586
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918